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Süddeutsche Zeitung, 26.11.2015
Nahost-Deutschland
Hassparolen gegen Israel, Überfälle, Hunderttausende Flüchtlinge. Bei vielen Juden hierzulande wächst das Unbehagen. Andere versuchen, es zu überwinden: indem sie die Hand ausstrecken
VON THORSTEN SCHMITZ
Noam Leichtentritt überlegt nicht lange, ob er für ein Gespräch bereit ist. „Sie sind der Erste, der mir zuhören will“, sagt er am Telefon. Wie man ihn erkennen wird bei der Verabredung? „Ich seh’ aus wie ein Araber. Nur mit Kippa.“ In Neuköllns Karl-Marx-Straße ist er nicht zu übersehen. Eine Kippa trägt hier sonst niemand.
Josef Schuster ist der Meinung, es sei nicht die Sache des Zentralrats der Juden in Deutschland, sich in der Flüchtlingsdiskussion aus dem Fenster zu hängen. Er hat es dann doch getan. In der Welt forderte der Zentralratsvorsitzende eine Obergrenze für Flüchtlinge: „Viele der Flüchtlinge entstammen Kulturen, in denen der Hass auf Juden und die Intoleranz ein fester Bestandteil sind.“ Bereits im Februar machte Schuster Schlagzeilen mit einem irritierenden Satz. Es sei die Frage, „ob es sinnvoll ist, sich in Problemvierteln mit hohem muslimischen Bevölkerungsanteil als Jude durch das Tragen einer Kippa zu erkennen zu geben“. Das Deutsch von Noam Leichtentritt ist noch nicht so gut, dass er Schuster versteht. Eigentlich muss er das auch nicht. Er erlebt fast täglich, wie das ist, als Jude in einem „Problemviertel“.
Seit elf Monaten lebt der 23-jährige Israeli in Berlin. Sobald er die Sprache beherrscht, will er ein Praktikum machen beim Film. Special Effects. Der Effekt, den seine bordeauxfarbene Kippa in Neukölln auslöst, das sind Blicke, die ihn verfolgen. In der U-Bahnlinie 6 zeigen dann zwei arabisch sprechende Jungs mit den Fingern auf Leichtentritts Kippa. Als sie aussteigen, rempeln sie ihn an. Versehen ausgeschlossen, an diesem Mittag ist die U-Bahn fast leer.
Von Deutschen bekomme er oft zu hören, er möge bitte Verständnis haben für den Hass und die Intoleranz von Arabern auf Juden, Homosexuelle, Frauen. Sie kämen nun mal aus undemokratischen Staaten. Leichtentritt sagt: „In Deutschland leben Zehntausende Chinesen, und China ist keine Demokratie. Aber noch nie hat ein Chinese mich angemacht wegen meiner Kippa.“ Er hat sich angewöhnt, auf Pöbeleien nicht zu reagieren: „Zu gefährlich.“
Probleme zwischen Juden und Muslimen in Deutschland sind ein Thema, über das nicht gerne geredet wird. Zu heikel. Es sind eigentlich immer die Juden, die das Tabuthema dann doch mal ansprechen. Es waren Juden, die im Sommer 2014 während des Gaza-Kriegs zu einer Kundgebung vor dem Brandenburger Tor aufgerufen haben, nachdem Palästinenser in Deutschland auf Demonstrationen „Israel vergasen“ skandiert hatten.
Andersrum hat eilfertige Scheinheiligkeit gerade Hochkonjunktur. Das hat die Geschäftsführung des Berliner Kaufhauses des Westens bewiesen, als sie Weine aus israelischen Siedlungsgebieten aus den Regalen verbannte. Vorausgegangen war eine Empfehlung der EU, Produkte aus besetzten arabischen Gebieten lediglich zu kennzeichnen – da diese Gebiete nach internationalem Recht nicht zu Israel gehören. Als Israels Premier Benjamin Netanjahu erklärte, dass ihn der Wein-Boykott an die Nazi-Losung „Kauft nicht bei Juden“ erinnerte, stellte das Kaufhaus die Golan-Weine wieder in die Regale. Nun kann man die Siedlungspolitik Netanjahus mit gutem Recht anprangern – aber wieso kennzeichnet das KaDeWe seine „Pistazien aus Persien“ dann nicht als das, was sie sind, da es ja Persien seit 1979 nicht mehr gibt: Pistazien aus Iran, dem Land, das bis heute den Holocaust leugnet.
Hassparolen gegen Israel, Überfälle auf Juden, Hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien und Irak, Terroranschläge auf einen jüdischen Supermarkt und einen Musikclub in Paris – wer sich auf eine Reise begibt durch Deutschland und mit Juden und Israelis spricht, erfährt: Vielen ist hier das Heimatgefühl abhandengekommen. Sergey Lagodinskys Familie ist einst vor dem Antisemitismus in Russland nach Deutschland geflüchtet. Der Rechtsanwalt befindet sich gerade im Wahlkampf. Im Dezember wird in der Jüdischen Gemeinde Berlin eine neue Repräsentantenversammlung gewählt. Lagodinsky tritt gegen den umstrittenen Gideon Joffe an, unter dessen Ägide der Ruf der Jüdischen Gemeinde stark ramponiert worden ist. Lagodinskys Gruppe heißt „Emet“, das ist Hebräisch und heißt „Wahrheit“.
Zur Wahrheit gehört nach Ansicht von Lagodinsky auch: „Wir Juden verbreiten nicht Hass und Intoleranz gegenüber den Flüchtlingen – wie es die Pegida-Anhänger tun“, sagt er an einem windigen Abend in einem Café am Gendarmenmarkt: „Aber es gibt Unbehagen, was die Zukunft betrifft.“ Viele Juden hätten bis heute nicht die Hassparolen vom Sommer 2014 vergessen und die Überfälle auf Juden und Israelis. Die Welle von Flüchtlingen, die meist aus Ländern stammen, in denen diese Hassparolen zur Staatsdoktrin gehören, mache vielen Gemeindemitgliedern Angst.
Lagodinsky hat die Erfahrung gemacht, Freunde zu verlieren, wenn er sein Unbehagen formuliert. „Viele kommen aus dieser Willkommenskulturszene. Die begreifen nicht, dass es uns Juden verunsichert, wenn der Nahostkonflikt nach Europa kommt.“ Als Lagodinsky einen Artikel auf seine Facebookseite hochlud, ob sich unter die Flüchtlingstrecks auch Terroristen mischten, schrieb ihm eine Freundin: „Du besitzt keine Empathie.“ Die beiden haben seitdem keinen Kontakt mehr.
Der Münchner Psychologe und Unternehmenscoach Louis Lewitan, auch aktives Mitglied der Jüdischen Gemeinde Münchens, weiß: „Ängste muss man ernst nehmen und wissen, wie man sie abbauen kann.“ Er kann die Verunsicherung der deutschen Juden nachvollziehen: „Es gibt unter den 22 arabischen Staaten keine einzige funktionierende Demokratie, das trifft leider auch auf die muslimisch geprägten Länder zu.“
Angst, Sorgen, Unsicherheit, all das lässt sich auch abschütteln. Die Mitglieder der Kreuzberger Synagoge am Fraenkelufer tun das gerade.
Die jungen Juden aus Deutschland, Israel und den USA leben in Kreuzberg und Neukölln, kaufen auf dem türkischen Wochenmarkt ein und essen Hummus bei Palästinensern. Sie sprühen vor Ideen. Organisieren interreligiöse Lernnächte und besuchen Flüchtlinge in Notunterkünften. „Gerade für uns Juden“, sagt Nina Peretz, die 32-jährige Vorsitzende des Synagogen-Freundeskreises, „ist es eine Pflicht, Menschen in Not zu helfen.“ Ältere Juden wie Zentralratschef Schuster sehen eher die Probleme und fordern, wie die CSU, ein Flüchtlingskontingent. Viele jüngere Juden wie Nina Peretz und ihre jüdischen Mitstreiter sind dagegen eher neugierig auf die muslimischen Einwanderer.
Ein Sonntagmorgen im ehemaligen Rathaus von Wilmersdorf. In den nackten Abgeordnetenbüros stehen jetzt Feldbetten, 1200 Flüchtlinge leben hier. In den Fluren rennen aufgekratzte Kinder umher. Im Hof sitzen Iraker, Syrer, Libanesen, Afghanen. Sie rauchen und starren ins Nichts.
Plötzlich biegt ein Transporter in den Hof ein. Junge Leute springen aus dem Auto, laden Kleidertüten aus und Spielzeug. Sie tragen T-Shirts mit hebräischen Schriftzeichen. Sofort werden sie von Flüchtlingen umringt. Jonathan Shay ist nervös. Der junge Jude steht das erste Mal Muslimen aus dem Irak und Syrien gegenüber. Um seinen Hals trägt er einen silbernen Davidstern, auf dem Kopf eine schwarze Kippa. „Mich interessiert“, sagt er, „ob die Flüchtlinge sich von den Indoktrinationen ihrer Diktatoren frei machen können.“
Vor einer halb offenen Tür bleibt Jonathan Shay stehen, zwei Männer aus Bagdad winken ihn herein. Beide heißen Ahmed, beide sind 28 Jahre alt. Vor ihren Betten stehen neue Turnschuhe, die alten haben sie durchgelaufen. „Juden kenne ich nur aus dem irakischen Fernsehen als Unterdrücker von Palästinensern“, sagt Ahmed Eltimimi. „Aber jeder Mensch ist anders.“ Er reicht Jonathan Shay die Hand. Eltimimi erzählt von seiner Flucht, Jonathan hört zu. Schnell sind sie bei den IS-Terroristen. Eltimimi sagt: „Jonathan, du weißt aber gut Bescheid über unser Land.“
Sein Mitbewohner Ahmed Shihab schaut Jonathan unentwegt an. Auch er steht zum ersten Mal einem Juden gegenüber. Er sagt, es sei verrückt: „Wir sind vor dem IS geflüchtet, jetzt verüben sie hier ihre Anschläge.“ Sobald er darf, möchte er arbeiten. Er ist Bauingenieur. Eine Ehrenamtliche gibt ihm Unterricht im Zeichnen. Von ihr hat er gehört, dass deutsche Juden Angst hätten vor den muslimischen Flüchtlingen. Vor ihm, sagt er, müssten sie keine Angst haben: „Wenn ich nicht akzeptieren würde, dass hier Juden leben, hätte ich auch nach Saudi-Arabien fliehen können.“
Nicht alle Flüchtlinge im Rathaus denken so. Als die 28 Jahre alte Hagar Levin beginnt, mit einem Mann aus Syrien zu reden, und er begreift, dass sie aus Israel stammt, macht er eine wegwerfende Handbewegung, dreht sich um und geht. Ablehnung ist Hagar Levin gewohnt. Seit drei Jahren bietet sie Workshops an für muslimische Jugendliche im Neuköllner Rollberg-Kiez. Manche Jungs geben ihr nicht die Hand, andere erzählen ihren Eltern nicht, dass ihnen eine Israelin Englisch beibringt. Sie muss seltsame Fragen beantworten: „Wie kannst du Jüdin sein und keine Schläfenlocken tragen?“ Inzwischen wird sie aber auch schon mal gefragt, was man ihr vom Sommerurlaub aus Bagdad mitbringen darf. Die Initiative von Hagar Levin „Shalom Rollberg“ läuft nur noch bis Ende dieses Jahres – sie sucht Investoren. Wie nötig ihr Projekt ist, erfährt sie jeden Tag. Die Jugendlichen erzählen ihr, dass sie in Neukölln ständig von Islamistengruppen angesprochen würden. Man solle zum Gebet in die Moscheen kommen oder ein „Like“ posten auf deren Facebookseiten.
Alan, 19, Mohammed, 32, und Ibrahim, 26, sitzen auf einem Mauervorsprung im Rathaushof. Ihre Nachnamen möchten sie nicht in der Zeitung sehen. Die Tage sind immer gleich, Kantinenessen dreimal am Tag und Ausflügen zum Kiosk am Fehrbelliner Platz, wo sie Zigaretten und Sim-Karten kaufen und sich wundern, dass Deutsche für Trödel auf dem Flohmarkt Geld ausgeben. Zwischen den jungen Männern sitzt Doron Gilad. Er ist 29 Jahre alt und arbeitet für den SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Thews. Gilad kommt aus Israel und spricht Arabisch. Seit einer halben Stunde fragt er die drei Männer über Syrien aus. Ihn fragen sie nichts. Die Sonne ist fast verschwunden, es wird kalt. Ibrahim zeigt Gilad und Shay einen Film auf seinem Smartphone. Auf dem Video sind IS-Milizionäre zu sehen, wie sie syrische Bürger schlagen, treten, anzünden. Gilad sagt: „Ich habe genug gesehen, Ibrahim.“ In die Stille hinein stellt Gilad eine Frage. Was sie seltsam finden an Deutschland?
Mohammed sagt: „Dass hier Männer Männer heiraten können.“
Alan sagt: „Dass es hier kalt ist, obwohl die Sonne scheint.“
Ibrahim sagt: „Dass ich vor meinen Landsleuten fliehen musste und mir hier Juden helfen.“
Frankfurt, ein paar Tage später, im Jüdischen Gemeindezentrum. Salomon Korn, der Gemeindevorsitzende, hat zu einem Diskussionsabend geladen, Thema ist die Flüchtlingswelle. Als vor acht Jahren das von Korn entworfene neue Jüdische Gemeindezentrum in Frankfurt eröffnet wurde, sagte er: „Wer ein Haus baut, will bleiben, und wer bleiben will, erhofft sich Sicherheit.“ An diesem Abend ist das Thema die Unsicherheit. Mehr als hundert Menschen sind gekommen. Korn zeichnet ein düsteres Bild. Die Flüchtlinge kennten keine Demokratie, bräuchten „sehr lange“, bis sie sich in die deutsche Gesellschaft integrierten, sie blieben „ihrem Glauben und ihrer Kultur behaftet“, die Juden dagegen „haben immer in aller Welt die Kultur ihres Gastlandes angenommen. Und bei den jüdischen Einwanderern gab es noch nie Terroristen oder Selbstmordattentäter.“ Später wird sich eine junge Frau von der Gemeinde melden: „Sie sprechen nicht für mich. Ich schäme mich, wie Sie alle Flüchtlinge über einen Kamm scheren.“
Ein Mädchen erhebt sich. Es ist 13 Jahre alt, Zahnspange, lockiges Haar, vor lauter Aufregung stockt ihm der Atem. Es wolle jetzt „auch mal etwas Positives berichten. Meine Mutter trägt ihren Davidstern unübersehbar am Hals und hat letzte Woche eine syrische Familie vom Hauptbahnhof in ein Aufnahmelager gefahren.“ Es wird ganz ruhig im Gemeindesaal. „Die Familie war sehr dankbar und hat sich gefreut, dass ihnen eine Jüdin hilft. Es geht doch um Menschlichkeit, nicht um Religion.“ Das Mädchen bekommt viel Applaus.
Applaus erntet auch Rechtsanwalt Abraham de Wolf für seine Balance aus Sorge und Solidarität: „Wir können nicht zuschauen, wenn so viele Menschen in Not sind.“ Deutschland sei ein reiches Land. Ärmere Staaten wie Libanon oder Jordanien hätten viel mehr Menschen aufgenommen. Andererseits werde die Flüchtlingskrise Deutschland sehr verändern: „Millionen Flüchtlinge kommen hierher, die von Kindheit an antisemitisch und israelfeindlich erzogen wurden. Das muss man deutlich sagen und dagegensteuern“, sagt de Wolf: „Ignorieren bedeutet fördern.“
Im Foyer der evangelischen Kirchengemeinde von Berlin-Zehlendorf sitzen Esther Schapira und ihr Mann Georg Hafner. Sie gehen noch mal die Stellen durch, die sie gleich vorlesen wollen. Ihr Buchtitel provoziert: „Israel ist an allem schuld. Warum der Judenstaat so gehasst wird.“ Die HR-Fernsehredakteurin Esther Schapira kommentiert für die „Tagesthemen“, manchmal auch zu jüdischen Themen. Ihr Vater war Jude, ihre Mutter Protestantin. „Ich bin befangen“, ist der erste Satz im Buch. Sie fragt aber auch zurück: „Und Sie?“
Seit Monaten reist das Ehepaar durch Deutschland und liest vor. Gerade ist die dritte Auflage erschienen. Das Buch enthält bemerkenswerte Szenen, etwa jene, als das Autorenpaar sich mit Cilly Kugelmann trifft, der Programmdirektorin des Jüdischen Museums in Berlin. Papperlapapp, sagt Kugelmann bei einem Gespräch im Restaurant ihres Lieblingsinders: „Wenn der Antisemitismus nicht mörderisch wird, kann man mit ihm gut leben.“ Esther Schapira denkt anders. „Ich mag nicht geduldig abwarten, wann der Judenhass bei uns in Mord umschlägt. Spätestens seit Paris wissen wir zwar, dass jeder gefährdet ist, der frei leben will, aber für Juden gilt das eben doppelt. Es ist naiv und gefährlich, den Gegner zu unterschätzen.“ Bei einer Lesung kürzlich in Hamburg, erzählt sie, habe sich ein Arzt gemeldet und von einer verstörenden Begegnung berichtet. Er hatte zwei syrische Flüchtlinge, die bei ihm am Krankenhaus eine Stelle gefunden hatten, in einer Pause gefragt: „Sagt mal, warum kommt ihr eigentlich alle nach Deutschland?“
„Weil wir uns hier wohlfühlen, auch aus historischen Gründen. Wir können Juden und Israel auch nicht leiden.“
Der Arzt versuchte zu korrigieren. „Da versteht ihr was falsch. Wir denken so nicht!“
„Ja“, sagte daraufhin der andere syrische Arzt. „Wir wissen, ihr müsst so reden. Aber eigentlich denkt ihr wie wir.“
Noam Leichtentritt war drei Jahre in der Armee, danach hat er versucht, diese drei Jahre auf einer Reise durch Asien zu vergessen. Unterwegs beschloss er, nach Berlin zu ziehen. Der besseren Chancen wegen und weil er das Schubladendenken in seiner Heimat satthat: „In Israel wirst du mit Kippa von allen für einen Siedler gehalten.“ In Berlin wollte er „die Freiheit von Europa auskosten“. Die Terroranschläge von Paris haben ihn nicht überrascht. „Das erleben wir in Israel ja ständig. Es war klar, dass der Terror jetzt auch nach Europa kommt.“
Er kramt sein Handy hervor, spielt eine Tonaufnahme vor aus der U-Bahnlinie 7, die Schöneberg mit Neukölln verbindet. Man hört, wie ihn arabische Männer beschimpfen. Sie rufen ‚Allah ist groß, Juden sind Schweine, Scheiß Jude‘. Dieser Antisemitismus gehört zur Popkultur. Niemand in der U-Bahn hilft ihm. Er steigt erst aus, als er einen belebten U-Bahnsteig sieht. Geht zur Aufsicht, die den Vorfall notiert. Seitdem hat er nie wieder etwas von der U-Bahngesellschaft oder der Polizei gehört. „Mir wird oft gesagt, bist du wahnsinnig, mit Kippa durch Neukölln zu laufen?“
Im Integrationskurs lernt er, worin der Unterschied besteht zwischen Bundestag und Bundesrat und wie Müll getrennt wird. Über das viel beschworene bunte Deutschland lernen sie nichts. Die Einreise von Millionen Flüchtlingen aus den Nahoststaaten nach Deutschland sieht er mit Sorge:„Wie will Deutschland denen erklären, dass hier Juden leben und Schwule?“
Am Abend nach der Verabredung meldet er sich. Er schickt eine Whatsapp-Nachricht. Gerade sei er wieder beschimpft worden, auf der Straße. Einer der arabischen Jugendlichen habe ihn bespuckt. „Ich weiß nicht“, schreibt er, „ob ich in so einem Land bleiben möchte.“ Nachts, hat er jetzt beschlossen, wird er seine Kippa unter einer Baseballkappe verstecken.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=