Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Sie wollen die Wahrheit wissen? Lesen Sie diesen Artikel!

Ständig wird man belogen, betrogen und ausgenutzt. Dagegen helfen nur Anti-Lügen-Bücher. Oder? Von Jan Grossarth

Auf der Frankfurter Buchmesse, in der Halle 3.0, wurde der Literaturkritiker Denis Scheck interviewt, und er sagte auch: „Es ist nicht wahr, dass Lesen immer schlau macht. Man kann sich auch dumm lesen. Schauen Sie sich nur einmal in dieser Halle bei den Verlagen genau um.“ Das Publikum lachte.

Sagte er die Wahrheit? Die größte Verlagsgruppe, Random House, hatte ihren Stand ganz in der Nähe. Da konnte man ja mal nachsehen. Es gab dort Bücher, die klug klingen („Chassidismus III“ von Martin Buber) und weniger („Die Erzengel – deine mächtigen Helfer“). Manche Titel waren nichtssagend („Wasser“), andere ganz schön blöd („Wie Sie unvermeidlich glücklich werden“). Denis Scheck hatte natürlich recht, so wie man fast immer recht hat mit Relativierungen. Doch am riesigen Stand von Random House fiel noch etwas auf: Viele neue Bücher handelten von der Lüge. Und das ist nicht irgendein Thema. Sondern ein hochaktuell politisches und zugleich uraltes. Dass jemand lüge, ist ein Totschlagargument, und weil Lügen so unmoralisch ist, verbindet es die Politik mit den menschlichen Abgründen. Außerdem wurden schon oft Lügen unterstellt, wo letztlich gar keine waren.

Eines der politischen Bücher steht aktuell auf der Bestsellerliste. Es ist „Die Freihandels-Lüge“ von Thilo Bode. Ob am Wochenende 150 000 Menschen in Berlin gegen das Freihandelsabkommen mit Amerika demonstriert hätten, gäbe es die Semantik der Lüge nicht, sondern nur die vielen Fakten und Wenns und Abers? TTIP bringe nicht so viel, wie Industrie und Politiker versprechen, argumentiert Bode darin ganz fair und sauber. Doch der Titel sagt mehr: Wir werden belogen.

Dieser Buchtitel ist unglaublich häufig. Der Mediziner Michael Nehls hat ein neues Buch geschrieben: „Die Alzheimer-Lüge“. Darin erfährt man, dass Alzheimer nicht einfach so kommt, sondern durch Faktoren ausgelöst werde, die teilweise durch unsere Lebensweise beeinflusst seien. Aus der Verlagsvorschau: „Eine bahnbrechende Erkenntnis, die unser Leben nachhaltig beeinflussen wird.“

Der Wunsch nach Erkenntnis ist erfreulicherweise groß. Und das nicht erst seit dem Herbst 2015. Hans-Josef Susenburger, ein Archivar der F.A.Z., findet schnell diverse Buchtitel mit „Lüge“. In den vergangenen Jahren gab es da etwa: Die Inflationslüge, Pensionslüge, Schöpfungslüge, Vorsorgelüge, Weiterbildungslüge, Joghurtlüge, Reformlüge, Soziallüge, Glückslüge, Geschlechterlüge, ADHS-Lüge, Supermarktlüge, Cholesterinlüge, CIA-Lüge, Methusalemlüge, All-inclusive-Lüge, Burnoutlüge, Reformlüge, Patchworklüge, Talentlüge, Mondlüge, Atomlüge, Ökolüge, Tetanuslüge, Pharmalüge, Virenlüge und den Klassiker des Journalisten Udo Ulfkotte, der Pegida Futter für ihr Bild von „der Presse“ gab: „So lügen Journalisten“.

Das hat was.

Was fällt auf? Zum Beispiel, dass die Lügen, von denen wir erfahren dürfen, oft entweder mit unserem Körper zu tun haben, den politischen Realitäten oder mit Gott. Die Lügen der Ernährungs- und Pharmaindustrie, der Finanz- und Wirtschaftseliten und der Theologen kommen relativ häufig vor. Dabei wurde es von Moses gerade den Theologen verboten zu lügen (zum achten Gebot gehört auch dazu, dass man nicht Vorurteile bemühen sollte, Klischees, nicht anderen schmeicheln soll, et cetera). Die Moses-Lüge? Letztlich aber war es ein Theologe, der mit diesen Büchern überhaupt angefangen hat. Martin Luther schrieb 1543 den Longseller: „Von den Juden und ihren Lügen“ (Verlag Hans Lufft).

Zurück zur diesjährigen Buchmesse. Der Verlag Pantheon geht mit „Die Alles-ist-möglich-Lüge“ ins Rennen. Nicht alles gleichzeitig sei möglich, lautet grob vereinfacht die These. Man muss sich entscheiden. Diejenigen, die behaupten, alles sei möglich, seien einer Lüge aufgesessen. Auch die Esoteriksparte von Random House befasst sich in diesem Herbst auffallend oft mit der Lüge. In den Vorschauen geht es um die „Milch-Lüge“ (doch nicht so gesund, wie lange gedacht, teils ungesund, nicht so viel trinken, die modernen Kühe leiden) – und einmal auch um die Lüge an sich. Vielleicht liefert dieses Buch eine Erklärung, warum so viele Bücher von der Lüge handeln: Bar Stenvik, „Blöff“ (Riemann). Das Buch wird so beworben: „Bar Stenvik zeigt, wie unser Wunsch nach Wahrheit und Authentizität geradezu einen Markt für ständig neue Bluffs schafft: Was ist echt, was ist Täuschung?“ Er meint, dass es unser Wunsch nach Wahrheit sei, der den Markt für Blöffs eröffne.

In diesen Tagen erscheint im Verlag Ludwig „Die Mutterglück-Lüge“ von Sarah Fischer. Darin verrät sie, dass sie eigentlich lieber ein Vater geworden wäre und mit dem Begriff des Mutterglücks hadert. „Die Fleiß-Lüge. Warum Frauen im Hamsterrad landen und Männer im Vorstand“ ist hingegen der Titel des neuen Werks von Brigitte Witzer im Verlag Ariston. Darin ist zu erfahren, dass auch das Glück der arbeitenden Frau begrenzt ist. Verlagswerbung: „Ein Augenöffner!“

Bei so vielen Augenöffnern kann es einem ganz hell im Kopf werden: Es ist nicht alles gleichzeitig möglich, arbeiten ist besser als Hausfrau sein, aber zu viel Fleiß im Office führt auch ins Unglück. Das nannte Hegel Dialektik. So werden am Ende der Zeiten alle Lügen einander aufgehoben haben. Ein Beispiel für eine diskursiv-dialektische Spirale, die zu höherer Einsicht führt, liefert das bald auch bei Ludwig erscheinende Werk von Detlef Brendel und Sven-David Müller: „Die Zucker-Lüge. Wie das Lebensmittel-Kartell uns einredet, dass Essen krank macht.“ Man denkt: Da geht es um die Zuckerindustrie. Aber die Erwartung löst sich schon im Klappentext dialektisch auf. Es geht gegen die Anti-Zucker-Hysteriker. Hatten also erst kürzlich aufsehenerregende Sachbücher wie „Zucker – der heimliche Killer“ (GU) und „Zuckerfrei glücklich in 8 Wochen“ (Goldmann) oder „Warum der Zucker uns umbringt“ (Systemed) oder Hans-Ulrich Grimms „Warum die Zucker-Mafia uns krank macht“ in die Kerbe geschlagen, dass uns die perfide Zuckerindustrie arg kränke, so werden in diesem Buch die Lebensmittelratgeber selbst zu Lügnern. Verlagswerbung: „Keine Angst vor den Angstmachern“.

Das ist klug gesagt. Apropos Zucker-Mafia: Der Titel führt zu einem weiteren Feld ertragreicher Titel-Schemata. Wir fragten das Archiv auch nach solchen Büchern, die mit „Wahn“ oder „Mafia“ titeln. Susenburger fand zahlreiche, und auch wieder eine dialektische Fülle von Diagnosen des Irrsinns. Der Gotteswahn und Atheismuswahn, Sojawahn und vegetarische Wahn, Hexenwahn und Wahn der Freiheit, Gender-Wahn, Wachstums- und Akademisierungswahn. Auch zum Suchwort Mafia findet Susenburger vieles: Spendenmafia, Gesundheitsmafia, Food-Mafia, Fleischmafia.

Was bedeutet das? Ein Kenner der Branche sagte: „Ach, wir machen das nicht zum Spaß. Es führt zu guten Verkäufen.“ Was er dann sagte, könnte man sinngemäß so zusammenfassen: Trends und Themen nutzen sich ab, aber niemals die Faszination einer bösen Macht, von der sich die Menschen bedroht fühlen, die sie deshalb auch gern fassen und erkennen wollen, aber nicht so, wie sie sich im wahren Leben zeigt, denn das macht ihnen Angst, sondern stilisiert in Miniaturform; das Böse muss reduziert werden wie eine Weintraube zu einer Rosine, aber zugleich muss die Form geglättet werden, die Schatten und Dellen retuschiert, damit es einfacher zu erkennen ist, und diese Miniaturen des Bösen müssen dann auch noch so dargestellt werden, dass sie letztlich doch viel größer als eine Rosine aussehen, eher so groß wie eine Wolke, aber doch nicht so groß wie das Böse.

Hatte damit nun Bar Stenvik recht? Zur Erinnerung: Das ist der Autor von „Blöff – Die geheime Mechanik der Lüge“, dessen These lautet, dass „unser Wunsch nach Wahrheit und Authentizität geradezu einen Markt für ständig neue Bluffs schafft“. Unser Wunsch nach sogenannter Wahrheit und Authentizität schafft zunächst einen Markt für ständig neue Hochstapler. Auch auf der Buchmesse wurden einige gesehen. Es geht ja auch nicht um die Buchverlage, sondern um den Leser. Der wünscht sich Bücher, nach deren Lektüre er sich authentischer und wahrhaftiger fühlt. So gesehen, hat Stenvik recht. Vielleicht sind es aber auch einfach nur Krimis.

Dass die Lügen-Bücher überwiegend von unseren Körpern (Ernährung, Gesundheit, Medizin) handeln oder von Gott oder vom Geld und der Finanzwelt – was hat das zu bedeuten? „Ich weiß es nicht“, sagte ein Branchenkenner. Klar ist, dass es viele Enttäuschungen mit dem eigenen Körper, Gott und dem Geld gibt. Klischees heilen; der Kitsch ist eine süße Medizin, die glücklich macht. Die Nebenwirkung ist aber, dass man davon dement wird. Jedenfalls mit gewisser Wahrscheinlichkeit.

(aus: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 18.10.2015)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=