Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

Registriert seit: 05.09.2012

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Macao war seit seiner Gründung Schauplatz der unterschiedlichsten Intrigen gewesen, und auch um die Geburt der Kolonie selbst rankte sich eine Legende, in deren Mittelpunkt ein eleganter Betrug stand: Es heißt, örtliche Fischer hätten 1564 eine im Hafen vor Anker liegende portugiesische Flotte um Unterstützung im Kampf gegen Piraten gebeten. Daraufhin versteckten die Portugiesen ihre Kanonen im Inneren chinesischer Schiffe und lauerten den Seeräubern auf dem Meer auf. In ihrer Dankbarkeit erlaubten die Chinesen den Portugiesen, auf der Halbinsel zu bleiben. Macao entwickelte sich zum wichtigsten Haltepunkt zwischen Indien und Japan, doch dann wurde in Hongkong ein besserer Hafen gebaut, weshalb sich Macao auf andere Dinge spezialisieren musste: Opium, Prostitution und Glücksspiel. Als der niederländische Schriftsteller Hendrik de Leeuw den Ort in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts besuchte, um für sein Buch Cities of Sin zu recherchieren, nahm er Macao in sein Werk auf als Brutstätte „allen Gesindels der Welt, der betrunkenen Kapitäne, des Treibguts der Meere, der Ausgestoßenen und der schamlosesten, schönsten und wildesten Frauen aller Häfen auf dem Erdenrund. Es ist die reinste Hölle.“
Während des Großteils seiner Geschichte wirkte Macao mit seinen barocken katholischen Kirchen und den Reihen von Cafés im Schatten herabhängender Palmen mindestens ebenso mediterran wie chinesisch, denn hier tranken alte Auswanderer cafe de manhã, während sie sich über das Jornal Tribuna beugten. Als ich jedoch dort ankam, erinnerte mich das Ganze eher an den Persischen Golf: Luxushotels mit Klimaanlagen, Hochhäuser und in der Sonne abgestellte Sportwagen. Oft waren die Steuereinnahmen Macaos doppelt so hoch wie die Ausgaben, und ähnlich wie in Kuweit teilte man auch hier im Zuge eines sogenannten „Wohlstandsverteilungsprogramms“ Schecks an die Bewohner aus. Der Arbeitslosenanteil betrug weniger als drei Prozent. „Was Las Vegas in fünfundsiebzig Jahren erreicht hat, schaffen wir in fünfzehn“, erklärte mir Paulo Azevedo, Herausgeber der Macao Business und anderer Lokalzeitschriften, als wir uns auf einen Drink trafen. Allerdings mangelte es aufgrund des rasanten Wachstums an vielem, etwa an Taxis, Straßen, Wohnungen und medizinischer Versorgung. „Wenn ich zum Zahnarzt möchte, muss ich nach Thailand“, sagte Azevedo. Einmal ging der Stadt beinahe das Münzgeld aus. Die Spielkasinos hatten den Rhythmus von Leben und Arbeit auf eine neue Weise geordnet, die nicht überall auf Begeisterung stieß. Die Schüler von Au Kam San, einem als Oberschullehrer tätigen Abgeordneten im Parlament von Macao, ließen ihn wissen: „Wir können Arbeit in einem Spielsalon finden und mehr verdienen als Sie.“
Eine kurze Autofahrt von der Fähre entfernt lag eine aus zwei Hotels bestehende Anlage, die dem Las-Vegas-Magnaten Steve Wynn gehörte; der dortige Louis-Vuitton-Store verkaufte pro Quadratmeter angeblich mehr als jeder andere Laden der Firma auf der Welt. Während ich vom PR-Mitarbeiter des Kasinos herumgeführt wurde und wir an einem Aquarium mit fluoreszierenden Quallen vorbeigingen, das mit einem speziell angefertigten Vorhang ausgestattet war, damit die Tiere nachts schlafen konnten, klärte er mich darüber auf, dass chinesische Gäste besonders viel Luxus erwarteten, weil es sich bei „jedem um einen Präsidenten oder Vorsitzenden handelt“. Wir machten im neuesten, mit einem Michelin-Stern ausgezeichneten Restaurant des Hauses halt, das sogar über einen Dichter verfügte, der jedem VIP-Gast eigens komponierte Zeilen widmete. Ich erkundigte mich bei der Kellnerin, warum neben jedem Tisch ein winziger weißer Lederschemel stand, und sie antwortete: „Der ist für Ihre Handtasche.“
Noch vor einer Generation hatten Familien ihre Erbstücke im Garten vergraben, um nicht Opfer politischer Verfolgung zu werden. Im Jahr 2012 war China als weltweit größter Abnehmer von Luxusartikeln an den USA vorbeigezogen. Obwohl die Chinesen den entbehrungsreichen Zeiten nicht hinterhertrauerten, fragten sie sich doch, wie sich der unbeirrbare Gewinntrieb wohl auf sie auswirken mochte. Folgender Witz machte die Runde: Ein Mann wird an einer Pekinger Straßenecke von einem Sportwagen gestreift und verliert einen Arm. Er starrt voller Entsetzen auf die Wunde und ruft: „Meine Uhr!“
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(Aus: Evan Osnos, Große Ambitionen – Chinas grenzenloser Traum)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=