Re: Lesefrüchte

#8674941  | PERMALINK

hal-croves
אור

Registriert seit: 05.09.2012

Beiträge: 4,617

[…]
Die Aufholjagd im neuen China führte zu einer inflationären Veränderung der Sprachgewohnheiten. Vor ein paar Jahren war ein „dreifacher Habenichts“ noch ein Arbeitsmigrant ohne Unterkunft, Anstellung und Einkommen gewesen. Als ich begann, Gong Haiyan in ihrem Büro zu besuchen, bezog sich die Bezeichnung auf Personen ohne Eigenheim, ohne Auto und ohne finanzielle Rücklagen. Heiratete ein dreifacher Habenichts, nannte man das „nackte Hochzeit“. So hieß auch eine chinesische Miniserie aus dem Jahr 2011, in der es um eine privilegierte junge Braut ging, die trotz elterlichen Einspruchs einen Arbeiter heiratete und bei seiner Familie einzog. Schnell mauserte sich die Serie zur beliebtesten Sendung im chinesischen Fernsehen. Wäre das Ganze ein Roman aus den dreißiger Jahren gewesen, hätte man es wohl zum Genre der tragischen Liebe gezählt: Am Ende der Serie lässt sich das Paar scheiden. Eine andere populäre Sendung war eine Entscheidungsshow namens Wenn Du der Eine bist, bei der sich junge Menschen gegenseitig bewerteten. Auf einem Bildschirm erschienen Blasen und zeigten an, ob der jeweilige Herr auch über ein Auto und ein Eigenheim verfügte. In einer Folge bot ein dreifacher Habenichts einer Frau eine Fahrt auf seinem Rad an; sie lehnte jedoch mit folgender Begründung ab: „Ich weine lieber in einem BMW, als auf einem Fahrrad zu lächeln.“ Dieser Satz war zu viel für die Zensoren. Sie strukturierten die Show um und nahmen eine matronenhafte Ko-Moderatorin in die Sendung auf, die ständig zu Tugendhaftigkeit und Zurückhaltung aufrief.
Ein- oder zweimal pro Monat veranstaltete Gongs Unternehmen Singleparties. Also marschierte ich eines Abends in einen Ballsaal voller sorgsam zurechtgemachter Männer und Frauen. Man hatte ihnen batteriebetriebene Ansteck-Blinklichter in Form von Kussmündern in die Hände gedrückt. Ein Moderator sprang auf der Bühne auf und ab und zog die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich: „Bitte legen Sie Ihre Hand auf Ihr Herz und sprechen Sie mir nach: ‚Ich schwöre, dass ich ohne betrügerische oder böse Absichten hergekommen bin.'“
Zwölf Frauen versammelten sich auf der Bühne und standen dort aufgereiht wie bei einer Spielshow, jede mit einem roten Stab ausgestattet, an dessen Spitze ein herzförmiges Lämpchen angebracht war: Licht an – Interesse; Licht aus – kein Interesse. Auf der Bühne befanden sich lauter erfolgreiche Damen: Ingenieurinnen, Doktorandinnen und Bankerinnen, alle Ende zwanzig oder Anfang dreißig.
Nacheinander erklommen einige Herren die Bühne und stellten sich den Fragen der Damen. Ich konnte die Erwartungshaltung, die während der Gespräche auf die Männer einflutete, geradezu spüren. Ein breitschultriger Banker in einem Baumwollpullover stieß auf beachtliches Interesse, bis er enthüllte, dass er sechseinhalb Tage die Woche im Büro festsaß. Als nächstes war ein Physikprofessor in einem Tweedjackett an der Reihe, der durch die Beschreibung seiner Lebensziele mit „nichts Besonderes – einfach nichts, das ich bereuen müsste“ nur auf wenig Begeisterung stieß. Als Letzter betrat ein lakonischer Strafverteidiger mit einer Vorliebe fürs Wandern die Bühne, der sich recht gut schlug, bis er die Teilnehmerinnen darüber informierte, dass er sehr großen Wert auf „Gehorsam“ legte. Die Lichter gingen aus, und er verließ die Bühne allein.
[…]

(Aus: Evan Osnos, Große Ambitionen – Chinas grenzenloser Traum)

--

"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=