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Die Lage der Deutschen in Österreich
Eben dachte ich daran, daß es Worte gibt, die mir den Aufenthalt in diesem landschaftlich begabten Lande so sehr erschweren. Da ist zum Beispiel das Wort, das die äußere Unordnung des hiesigen Lebens so sehr verschärft: das Wort »Pallawatsch«. Da ist ferner das Wort, das es einem fast zur Pein macht, länger »doder« zu bleiben. Da ist der vollkommen rätselhafte Ausruf, der jeden Stoß oder Fall, den man hierzulande erleidet, zur Katastrophe steigert: »Pumpstinazi«. Da ist jene Bezeichnung für einen gesunden Nachwuchs, die gebieterisch zur Fruchtabtreibung drängt: »Pamperletsch«. Da ist ein Wort, das allem Sinnengenuß den Garaus macht, indem es das höchste Entzücken des Wieners an den weiblichen Brüsten ausdrückt. Während sie nämlich Schiller – als er noch Kraft hatte – für die »Halbkugeln einer bessern Welt« ansah, prägt sich die bezügliche Weltanschauung des Wieners in dem viehisch tastenden Behagen aus, das zur Schöpfung des Wortes »G’spaßlaberln« geführt hat. Es ist ein vernichtendes Wort, eines, das unbedingt in Lebenshaß und Askese treibt. Es drückt die Beziehung des Hausmeisters zum Eros aus und hat mir schon üble Stunden bereitet. Und da es mir beim Anblick des Gesichts, das ein Wirtshausgast machte, als ihn die Kellnerin streifte, einfiel und ich darüber nachdachte, wie es denn komme, daß in keinem andern Idiom der Welt die Welt so häßlich sei – fiel mein Blick auf die Speisekarte. Nicht daß es hier Powidltatschkerln gab, war geeignet, mich dem Hungertod preiszugeben. Ich las ein anderes Wort. Ich erfuhr, daß es die Bezeichnung für ein belegtes Brot sei. Es hieß nicht, wie häufig üblich, nach dem Wirt. Nehmen wir an, der Wirt hieße Stohanzl – ein Name, der mir oft beim Lesen der Wiener Zeitungen aufstieß –, so wäre die Titulatur: Stohanzl-Appetitschnitte eine natürliche Fügung. Wie anders sollte sich denn die Individualität hierorts ausdrücken, als daß man den Wirt nach der Speise oder die Speise nach dem Wirt benennt? Nein, so hieß es nicht, das belegte Brot! Es hieß vielmehr – man wird es nicht erraten – es hieß zu Ehren einer deutschnationalen Tischgesellschaft, auf welche die Kellnerin hinwies, als ich sie nach der Provenienz des Namens fragte. Nun könnte man vielleicht glauben, daß es sich um ein Südmark-Brötchen gehandelt hat. Das wäre ja trist. Aber schließlich, die Politik geht sonderbare Wege und die Lage der Deutschen in Österreich ist etwas, woran man nicht oft genug erinnert werden kann. Nein, nein, so hieß es nicht, das belegte Brötchen. Auf der Karte stand vielmehr – auf der Karte stand: »Südmark-G’spaß 70 Heller«. Ich fürchte, daß ich darüber nicht hinwegkommen werde.
(Die Fackel: Nr. 331-332, 30.09.1911, S. 33-34)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=