Startseite › Foren › Kulturgut › Print-Pop, Musikbücher und andere Literatur sowie Zeitschriften › Die Drucksachen › Lesefrüchte › Re: Lesefrüchte
Freilich nicht nur die Erwerbsarbeit, auch das Familienleben und die Freizeitgestaltung, eigentlich das Leben insgesamt, scheinen für die meisten Menschen in der modernen Gegenwartsgesellschaft unter Optimierungsdruck zu stehen. Die jungen, hoch gebildeten Frauen setzen auf die Vereinbarkeit von anspruchsvollem Beruf und bindungsstarker Familie; die neuen risikokompetenten Männer wollen nicht als einsame Wölfe enden; man will weder leben, um zu arbeiten, noch arbeiten, um zu leben, sondern so viel Leben beim Arbeiten wie möglich und so viel Arbeit beim Leben wie nötig. Man sorgt sich um die Bindung, den Sex, das Outfit, die berufliche Herausforderung, die erotische Ausstrahlung und die körperliche Verfassung. Entgrenzung, Selbstwerdung, Flexibilität und Kreativität beschreiben eine Lebensführung außengeleiteter Intensivierung, bei der Hochstimmungen sich mit einem Mal in Leerlaufgefühle verwandeln. Die Nachwuchsplanung wird zum Albtraum, die Partnerschaft unterliegt dem Stresstest, die Teamsitzungen lassen sich nur im Wachkoma bewältigen, und bei der Vorstellung der Arbeitsergebnisse ist wieder die Enge im Brustkorb zu spüren.
Die Mobilisierung des Könnens in alle Richtungen und auf allen Ebenen wird von der plötzlich auftauchenden Frage nach dem Wollen auf Grund gesetzt. Wozu das alles? Worum geht es im Zweifelsfall? Was will ich im Leben? Das sind die Fragen der Angst um sich selbst, die eine große Erschöpfung mit sich bringen können.
Man fühlt sich gehetzt, getrieben und angegriffen. Alles wirkt stumpf, matt und reizlos. Man wacht morgens wie gerädert auf, als habe man nicht geschlafen. Der Rest des Ichs, das den Kaffee macht und den Rechner hochfährt, schafft es nicht, sich gegen den selbstzerstörerischen Hang zu wehren, alles infrage zu stellen, unaufhörlich darüber zu grübeln, ob es einen Weg raus gibt, oder die Abgeschnittenheit von den Vorgängen im Betrieb oder Zuhause zu beklagen. Warum um Himmels willen läuft immer alles so schief?
Offenbar kann die Angst, etwas nicht hinzubekommen, sich ab einem bestimmten Punkt in die Angst verwandeln, alles falsch gemacht zu haben. Der Optimierungswahn verdeckt nur die Existenznot. Der gute Rat, Prioritäten zu setzen, vergisst, dass man dazu Prioritäten empfinden muss.
(Heinz Bude, Gesellschaft der Angst, S. 94-96)
--
"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=