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[…] Wahrlich, wenn Hotelportiers nicht bloß einen dekorativen Zweck haben sollten, so sind es scherzhafte Apparate zur Irreführung des Publikums. Sicher weiß man es aber nicht. Das ist es eben. Man möchte gern das Gegenteil von dem tun, was sie einem raten, aber leider ist auch auf diesen Weg kein Verlaß. Denn es kann vorkommen, daß ein Hotelportier irrtümlich eine richtige Auskunft gibt, und dann steht man da. Oh, es wird sich einmal herausstellen, daß diese Männer in den Portierlogen geboren und gleich Kant nie aus ihrem Geburtsort herausgekommen sind. Wie hätten sie auch mit ihren geringen Kenntnissen vom Eisenbahnwesen die Reise in die Städte machen können, in deren Hotels sie heute ihre eigenartige Tätigkeit entfalten? Sie sind schon auf dem Standpunkt geboren, auf den unsereins erst nach den mannigfachen Ärgernissen und Enttäuschungen gelangt: es sei viel schöner, sich das Reisen vorzustellen.
Und muß man denn wirklich erst reisen, um zu erfahren, daß es so viele Berufe gibt, deren Nützlichkeit mit ihrer koloristischen Wirkung nicht gleichen Schritt zu halten vermag? Kontrollore zum Beispiel gibt es auch auf der Straßenbahn. Sie unterscheiden sich von den Kondukteuren dadurch, daß sie Handschuhe tragen, aber während die Kondukteure die Karten immerhin abzwicken, schauen sie sie bloß an. Wozu gibt es Kontrollore? Der Kellner, dem man die Hotelrechnung bezahlt, ist gewiß ganz besonders rätselhaft. Aber hat man denn das Geheimnis jener Personen ergründet, die in unseren ureigenen Stammlokalen für nichts anderes entlohnt werden, als dafür, daß sie das Geld bekommen? Sie sind in hohem Grade malerisch. Und hat man sich schon einmal gefragt, was die sonderbaren Männer zu bedeuten haben, die in einem Kaffeehaus oder Restaurant plötzlich vor uns hintreten und sich stumm verbeugen? Mit großer Mühe ist es mir gelungen, herauszubringen, daß es die Besitzer sind. Aber diese Erschließung hatte mit so vielen anderen tatsächlichen Wahrheiten gemeinsam, daß sie mich nicht befriedigte. Es war damit noch nicht aufgeklärt, welche Bedeutung die Pantomime jener Männer hat. Denn daß sie uns nichts nützt, daß sie uns zur Unterbrechung unserer Lektüre, unserer Gespräche, unseres Nachdenkens zwingt, liegt auf der Hand. Dieser Gruß nötigt uns sogar zu einem Gegengruß, wir sind also gezwungen, eine Unfreundlichkeit mit einer Freundlichkeit zu erwidern. Ich kannte einen Cafétier, der täglich mit einem Blick vor mich hintrat, gegen den das ave Caesar, morituri te salutant eine leere Versprechung war. Ob nun darin bloß eine unzerstörbare Ergebenheit oder auch der stille Vorwurf lag, daß das Geschäft nicht zum besten gehe, nie vergesse ich diesen Blick eines verendenden Kaffeesieders. Wie anders wirkt der Hotelier einer Sommerfrische auf mich ein, dessen Stummheit weltmännisches Gehaben bedeutete, ohne daß ich mir freilich zu erklären wußte, warum es gerade vor mir produziert werde. Als ich mich aber einmal zu der unvorsichtigen Bemerkung hinreißen ließ, daß das Rindfleisch gut sei, vernahm ich diese Ansprache: »Es ist erfreulich, ein solches Lob aus so kompetentem Munde zu hören, und soll dies uns ein Ansporn sein, nicht zu erlahmen, sondern unerschrocken auf dem einmal betretenen Wege fortzufahren.« Er ist also Feuerwehrobmann, sagte ich mir, und die Perspektive in ein winterliches Leben tat sich vor mir auf, wo es keine Kurgäste mehr gibt und das zurückgehaltene Deutschtum wieder in seine Rechte tritt … Ach, ich habe oft den Nutzen der Restaurants und der Kaffeehäuser gewürdigt, nie aber ist es mir klar geworden, welchen Zweck die Restaurateure und die Cafétiers haben. […]
(Die Fackel: Nr. 261-262, 13.10.1908, S. 20-22)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=