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Lob der verkehrten Lebensweise.
Ich hatte die traurigen Folgen einer normalen Lebensweise, mit der ich es eine zeitlang versuchte, nur zu bald an Leib und Geist zu spüren bekommen und beschloß, noch einmal, ehe es zu spät wäre, ein unvernünftiges Leben zu beginnen. Nun sehe ich die Welt wieder mit jenen umflorten Blicken, die einem nicht nur über die Wirklichkeit der irdischen Übel hinweghelfen, sondern welchen ich auch manch eine übertriebene Vorstellung von den möglichen Lebensfreuden verdanke. Das gesunde Prinzip einer verkehrten Lebensweise innerhalb einer verkehrten Weltordnung hat sich an mir in jedem Betracht bewährt. Auch ich brachte einmal das Kunststück zuwege, mit der Sonne aufzustehen und mit ihr schlafen zu gehen. Aber die unerträgliche Objektivität, mit der sie alle meine Mitbürger ohne Ansehen der Person bescheint, allen Mißwachs und alle Häßlichkeit, entspricht nicht jedermanns Naturell, und wer sich beizeiten vor der Gefahr retten kann, mit klaren Augen in den Tag dieser Erde zu sehen, der handelt klug, und er erlebt die Freude, darob von jenen gemieden zu werden, die er flieht. Denn als der Tag sich noch in Morgen und Abend teilte, wars eine Lust, mit dem Hahnenschrei zu erwachen und mit dem Nachtwächterruf ins Bett zu gehen. Aber dann kam die andere Einteilung auf, es ward Morgenblatt und es ward Abendblatt, und die Welt lag auf der Lauer der Ereignisse. Wenn man eine Weile zugesehen hat, in wie beschämender Art sich diese vor der Neugierde erniedrigen, wie feige sich der Lauf der Welt den gesteigerten Bedürfnissen der Information anpaßt und wie schließlich Zeit und Raum Erkenntnisformen des journalistischen Subjekts werden, dann legt man sich aufs andere Ohr und schläft weiter. »Nehmt, müde Augen, eures Vorteils wahr, den Aufenthalt der Schmach nicht anzusehn.«
Darum schlafe ich in den Tag hinein. Und wenn ich erwache, breite ich die ganze papierene Schande der Menschheit vor mir aus, um zu wissen, was ich versäumt habe, und bin glücklich. Die Dummheit steht zeitlich auf, darum haben die Ereignisse die Gewohnheit, vormittags zu geschehen. Bis zum Abend kann immerhin noch Manches passieren, aber im allgemeinen fehlt dem Nachmittag die lärmende Betriebsamkeit, durch die sich der menschliche Fortschritt bis zur Stunde der Fütterung seines guten Rufs würdig zeigen will. Der richtige Müller erwacht erst, wenn die Mühle stillesteht, und wer mit den Menschen, deren Dasein ein Dabeisein ist, nichts gemein haben will, steht spät auf. Dann aber gehe ich über die Ringstraße und sehe, wie sie einen Festzug vorbereiten. Vier Wochen hallt der Lärm, wie eine Symphonie über das Thema vom Geld, das unter die Leute kommt. Die Menschheit rüstet zu einem Feiertag, die Zimmermeister schlagen Tribünen und die Preise auf, und wenn ich bedenke, daß ich all die Herrlichkeit nicht sehen werde, beginnen auch meine Pulse freudiger zu gehen. Führte ich noch die normale Lebensweise, so hätte ich wegen des Festzugs abreisen müssen; nun kann ich dableiben und sehe trotzdem nichts. Ein alter König bei Shakespeare winkt ab: »Macht kein Geräusch, macht kein Geräusch; zieht den Vorhang zu! Wir wollen des Morgens zu Abend speisen«. Ein Narr, der die Verkehrtheit dieser Weltordnung bestätigt, setzt hinzu: »Und ich will am Mittag zu Bette gehn«. Wenn aber ich am Abend frühstücken werde, wird alles vorbei sein, und aus den Zeitungen erfahre ich bequem die Zahl der Sonnenstiche. […]
(Die Fackel: Nr. 257-258, 19.06.1908, S. 10-12)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=