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Die neue Orthographie.
(Ein zeitgemäßes Citat.)
»Ew. Wohlgeboren rühmlichst bekannter Eifer für unsere neue Orthographie oder, wie sie sie jetzt schicklicher nennen, Cäno- oder Kainographie, um sie nicht mit der alten, sogenannten Orthographie zu verwechseln, hat mich aufgemuntert, Denenselben einen Plan zur Bekanntmachung vorzulegen, der mit dem Kainographischen viele Aehnlichkeit hat, nämlich die Beinkleider abzuschaffen.« … »Daß es einem auffallend sein würde, jetzt einen Minister oder General ohne Beinkleider herumgehen zu sehen, das ist bloß die Ungewohnheit, lächerliches Vorurtheil. Es ist nicht mehr, als statt des einfältigen der und physisch jetzt där und füsisch zu schreiben, welches recht ist.« … »Was die Engländer in der Füsik, die Franzosen in der Metafüsik sind, sind die Deutschen unstreitig in der Ortokrafi. Das Süstem, das uns Herr K … hierüber gegeben hat, ist vortreflich. Fürz gleich nicht überall Ueberzeugung bei sich, so fürz doch auf Einigkeit, und hilfz nichz, so schatz doch auch nichz. Vorzüglich Dank ferdint Herr Mülius in Berlin, der auch in seinem zerdeutschten Gil Blas Hüpokrates schreibt, und also auch vermuthlich Filüppus und Hippotese schreiben würde. – – Neulich entstand bei einem Testament ein entsetzlicher und fast scandalöser Streit über folgende Worte: ‚Auch vermache ich das Heu von meinen Wiesen den jedesmaligen drei Stadtfarren zu O …‘ Es wurde nämlich gestritten, ob Testator die Prediger des Orts, oder die Bullen gemeint habe; und weil die letztern einen bessern Advocaten erhielten, als die erstern, so fiel das Heu dem Bullenstall zu. Der Advocat für die Prediger wusste nichts beizubringen, als daß man einem unvernünftigen Vieh nichts vermachen könne; nur sei bekanntlich Testator ein Anhänger von Herrn K … und dessen prosaischen Werken gewesen, und habe daher farren statt pfarrern geschrieben. Dagegen erwies der Advocat für die Bullen mit unwidersprechlichen Zeugnissen, Testator sei zwar ein eifriger K–ianer, aber, da er selbst Pfeiffer geheißen, auch ein hartnäckiger Vertheidiger des Pf gewesen, weshalb er wol oft Klopfstock und Trepfe gesagt, aber sich nie Feiffer unterzeichnet habe. Die Sache wäre also klar. Ueberdies habe der Selige bekanntlich nicht viel auf die dasigen Herren Prediger gehalten, und da die Wiesen gegen dreihundert Thaler abwerfen, so wäre es gar nicht wahrscheinlich, daß er sie gemeint hätte u.s.w.«
Georg Christian Lichtenberg (1742–1799).
(Die Fackel: Nr. 133, 26.03.1903, S. 22-23)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=