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Die Fackel
NR. 133 WIEN, MITTE MÄRZ 1903 IV. JAHR
Die antisociale Tendenz der Journaille muß sich nachgerade auch dem blödesten Auge offenbaren. Dort zumal, wo das Missverhältnis zwischen Ursache und Wirkung, zwischen Scriblerlaune und Gefährdung von Existenzen am crassesten ist: auf dem Gebiete des Bühnenwesens. Hier schonen die Kerle, wenn ihnen nur kein Witz in der Kehle stecken bleibt, weder das Privatleben noch das künstlerische Ansehen, weder das Schamgefühl noch die wirtschaftliche Sicherheit. Der Politiker kann sich wehren, der Bankdirector die Pauschalien sperren, wer immer der öffentlichen Kritik unterworfen ist, die schwachen Mittel anwenden, die ihm ein schlechtes Gesetz und ererbte Pressfurcht an die Hand geben: Der Schauspieler ist wehrlos. Solange das Publicumsgehirn eine mit Druckerschwärze gepichte Camera obscura bleibt, solange Theaterdirectoren Gagen und Gastspielhonorare nach der publicistischen Werthung bemessen, die sich ein ernstzunehmender Menschendarsteller von dem dümmsten Notizenbengel gefallen lassen muß, solange geht kein Riss durch das Weltganze, wenn Herr Sonnenthal aus seinem Wagen springt, um einen Revolverer letzter Sorte zu umarmen, wenn ein Girardi, den das gefestete Bewusstsein einer unbestrittenen Volksthümlichkeit erheben dürfte, im Comitézimmer der »Concordia« herumbänkelt, wenn die stolzeste Diva an den niedrigsten Coulissenschnüffler ein vertrauliches »Lieber Doctor!« verschwendet. Der Einzelne sagt sich mit Recht, daß er mit Hinauswurf und Fußtritt nicht gut anfangen könne, wenn er nicht sicher ist, daß ihm die Anderen folgen, und Solidaritätsbewusstsein gehört nur insofern zu den Tugenden der Bühnenangehörigen, als sie z.B. einstens allesammt auf den »Concordiaball« giengen, nachdem alle ihm fernzubleiben beschlossen hatten. Kein Kenner des Strafapparats, über den die Journaille verfügt, kein Einsichtiger kann ihnen die alljährliche Erniedrigung verargen; und wer beobachtet hat, wie die »Concordia« auch heuer wieder mit Circularen, deren animierende Tendenz von einem fast drohenden Ton getragen war, arbeitete, der wird die Präsenzliste des Schmöckeballs, soweit sie Theaterleute umfasst, sicherlich glaubhaft finden. Keinem Schauspieler, der vor der Contracterneuerung steht, darf man die Heroenlust zumuthen, die Rache des Ballcomités bei lebendigem Leib über sich ergehen zu lassen, und wenn man weiß, daß Theaterdirectoren bei willfährigen Redactionen sich telephonisch Tadel bestellen, um einen Vorwand für Entlassung oder Gageverminderung zu gewinnen, wenn man dieses Complot zwischen Ausbeutung und Corruption am Werke sieht, dann mag manche ethische Forderung übertrieben klingen. Wer unter einem Joch hindurch muß, kann die Nackensteife nicht bewahren.
Die Affaire Hohenfels-Wanka, die alle Coulissenschnüffler beschäftigt hat, bietet die Anregung, einen Weg zu weisen, der neben dem Joch vorbeiführt. Es ist der Weg gerichtlicher Nothwehr. Ich denke nicht etwa an undankbare Beleidigungsklagen, die höchstens dazu führen, daß der für »Verrohung der Kritik« Gestrafte sich durch Todtschweigen und sonstige höfliche Berufsstörung hundertmal schwerer rächt. Wer hier den Anfang macht, lädt sich ein überflüssiges Martyrium auf. Mich interessiert ausschließlich die civilrechtliche Seite des Verhältnisses, das zwischen misshandelten Theaterleuten und ungehemmt ihre Macht missbrauchenden Pressleuten besteht. Viel öfter als in seiner Ehre ist der Schauspieler in seiner wirtschaftlichen Sicherheit durch den um eines Witzes, um einer Sensation, um einer Lüge willen Schreibenden bedroht. Herr Julius Bauer hat über den armen Debutanten zu schreiben, der bangend und hoffend an einer Lebenswende steht. Der Debutant gefällt ihm vielleicht ganz gut. Aber da erfährt er, der junge Mann sei früher einmal Zahnarzt gewesen, dankt seinem Schöpfer für die Eingebung und schreibt: »Wir werden ihn schmerzlos ziehen sehen«. Er dachte vielleicht noch darüber nach, ob er den Witz nicht anbringen und doch sein Urtheil bewahren könne, aber da dies ohne Gefährdung des Witzes nicht möglich gewesen wäre, mußte er sich entschließen, das Urtheil zu opfern. Das ist ein Beispiel für tausende. Hier ist’s ein Kalauer, dort eine Laune, hier stilistisches Abwechslungsbedürfnis, dort die Erinnerung an eine unterlassene Redactionsvisite. Immer aber bleiben Ursache und Wirkung incommensurabel, immer erschreckt der Gedanke, daß ein Wort eine Existenz aufs Spiel setzt. Und je größer die Gefahr ist, umso unbedenklicher wird von lndividuen, die zufällig in’s Verfügungsrecht über Druckerschwärze eingesetzt sind, mit Worten gespielt. Der Coulissenschnüffler, der nach einer Affaire lechzt, hat aus dem in einem Theatercafé geführten Gespräch: daß Frau Hohenfels mit Herrn Wanka zwar eine »Monna Vanna«-Probe durchgemacht hat, aber, da inzwischen Herr Reimers sich gesund meldete, nicht mit ihm auftreten wird, die Eigennamen erlauscht. Daraus entsteht die Notiz: Frau Hohenfels habe sich geweigert, mit Herrn Wanka in »Monna Vanna« aufzutreten; die Meldung wird mit dem Vorwurf der Uncollegialität gegen die Künstlerin garniert und stellt ihren am Auftreten gehinderten Partner empfindlich bloß. Drei Klatschblätter, die ‚Zeit‘, das ‚Neue Wiener Journal‘ und die ‚Sonn- und Montags-Zeitung‘, haben die Nachricht liebevoll einander abgenommen. Sie ist so dreist erfunden, daß sich die von der Berührung mit Zeitungsschmutz stets ferne Künstlerin entschließt, den Sachverhalt in zwei Blättern richtigzustellen, in deren Theatertheil die Lügennotiz bis dahin nicht gedrungen war. Glaubt man, daß auch nur eines der Lügen gestraften Klatschblätter die Berichtigung übernommen hat? Inzwischen aber können etliche Gastspielanträge von Provinztheaterdirectoren, die den jungen Heldendarsteller ihrem Publicum als Prinzivalli vorführen wollten und eifrige Leser des ‚Neuen Wiener Journal‘ sind, zu Wasser geworden sein. Der dem Schauspieler durch müßigen Zeitungsklatsch bereitete Schaden läßt sich in diesem wie in jedem anderen Falle mit der von der Civilprocessordnung erforderten Genauigkeit feststellen. Man versuche es einmal. Zu einer Beleidigungsklage gehört jenes Maß von Opfermuth, daß dem Einzelnen nicht zugemuthet werden kann; ihr Erfolg schadet dem Einen und nützt der Gesammtheit nichts. Ein Schadenersatzbegehren, in flagrantem Falle gestellt, erfordert nicht die geringste Courage und würde – außer dem persönlichen Erfolg – zwischen dem Stande und seinen Bedrückern mit einem Schlage die alten Bande lösen.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=