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[INDENT][INDENT][INDENT]»Die Redekunst also, o Gorgias, ist, wie mich dünkt, die Meisterschaft in einer Ueberredung, die Glauben, nicht Wissen über Gerechtes und Ungerechtes bezweckt …. Auch könnte wohl der Redner nicht so viele Menschen in kurzer Zeit über so wichtige Dinge belehren.«
Sokrates in Plato’s »Gorgias«.
[INDENT][INDENT][INDENT]»Wenn ich doch genug Rednergabe besäße, um Ihnen die Ueberzeugung beizubringen, daß Stefan Tippel kein Mörder ist!«
Der Vertheidiger.
Der September 1902 bleibt denkwürdig in der Entwicklung unserer Rechtspflege. Da hat uns ein aufgeklärter Zuckerbäcker das ganze veraltete Strafgesetz über den Haufen geworfen. Wäre der Conditoreibetrieb des Herrn Gfrorner für dreißig Tage etwa Herrn Baron Distler anvertraut, der Oberlandesgerichtsrath würde sich sicherlich nicht vermessen, grundstürzende Reformen in der Erzeugung von Indianerkrapfen und Pralinées durchzuführen. Aber der Conditor hat in diesem Monat die Gerechtigkeit täglich frisch auf’s Eis geführt. Ihm ward, – solche Wunder wirkt der heilige Geist der Demokratie – da er zum Geschwornenobmann erwählt wurde, auch die Fähigkeit zutheil, durch das Paragraphengestrüpp des Gesetzes und durch die dunkeln Gedanken- und Gefühlsgänge, auf denen Menschen straucheln, den graden Weg zu finden, und mit der Gabe, alles zu verstehen, ward ihm die Macht, alles zu verzeihen. In einem köstlichen Machtrausch hat Herr Gfrorner vier Wochen gelebt, von der Schmeichlerkunst* advocatorischer Rede zu immer neuen Großthaten verleitet und schließlich zu den größten: zur Freisprechung einer geständigen Diebin und eines geständigen Mörders. Der Zweifel des Vertheidigers Tippels an der eigenen Rednergabe war unbegründet; eine richtige Beurtheilung der Geschwornen hatte ihm gesagt, daß dort, wo ihnen die Lichtstrahlen des Denkens nicht mehr leuchten, noch die Wärmestrahlen des Herzens wirken würden, und er wendete sich mit den Worten an sie: »Sie haben es gewiss oft gelesen, daß – namentlich in Frankreich – Ehegatten ihrer verletzten Ehre Genüge leisten, indem sie nicht nur das schamlose Weib tödten, sondern auch den Nebenbuhler. Was aber andere Geschworne empfinden, das können die Wiener Geschwornen umso viel mehr empfinden; denn nebst der weisen Erkenntnis besitzen sie das goldene Wienerherz, jenen prächtigen Schatz, welchen gerade Sie manchem Unglücklichen in so schöner Weise eröffnet haben.« Das goldene Wienerherz hat sich nicht vergebens mahnen lassen, und die Geschwornen mögen, als sie den Mord an der Ehebrecherin verziehen, bedauert haben, daß sie nicht, gleich ihren glücklicheren Collegen in Frankreich, auch noch die Ermordung des Ehebrechers zu verzeihen hatten. Und doch wäre die Meinung irrig, daß sie das von Herrn Gfrorner verkündete Verdict in leerer Gefühlsduselei gefällt haben. Keinem Richter schulden die Geschwornen Rechenschaft über ihr Urtheil. Aber vor jenem Tribunal, in dem liberale Geister allzeit den höchsten Richter erkennen, vor dem Forum der Concordiapresse wird es seit einiger Zeit üblich, Geschwornenverdicte zu begründen. Und Herr Gfrorner hat, sowie nach dem Freispruch der Diebin im ‚Neuen Wiener Tagblatt‘, diesmal in der ‚Reichswehr‘ das Wort ergriffen, um seine und seiner Collegen Meinung ganz klar zu stellen. »Die Meisten von uns«, so bekennt er eingedenk der Rede des Vertheidigers, »hätten in einem solchen Falle nicht nur die Frau, sondern auch den Mann erschlagen. Durch einen (verdammenden) Urtheilsspruch hätten wir den Frauen Wiens förmlich einen Freibrief für den Ehebruch ausgestellt …. Es darf doch nicht so weit kommen, daß ein Weib ungestraft sich mit dem Arbeiter ihres Mannes in ehebrecherische Beziehungen einläßt.« Man muß Herrn Gfrorner für diese Worte der Aufklärung dankbar sein. Den Frauen Wiens sollte kein Freibrief für den Ehebruch, aber den Männern Wiens ein Freibrief für den Meuchelmord ausgestellt werden! Kein Weib wird fürder ungestraft die Ehe brechen, aber ungestraft soll fürder jeder Mann sein Weib, das die Ehe bricht, mit der Hacke erschlagen dürfen. Das klärt die Situation. Der Glaube, daß sich die Geschwornen bloß als weichherzige Männer benommen hätten, ist gründlich zerstört, und bewiesen ist vielmehr, daß sie sich als Richter und zwar als Nachrichter über eine Todte fühlten. Nicht Milde gegen den Angeklagten, sondern Strenge gegen sein Opfer sollte ihr Urtheil bedeuten, und während ihnen der Mann auf der Anklagebank durch jene dramatische Furcht, die nach Lessing das auf uns selbst bezogene Mitleid ist, zum Helden emporwuchs, haftete ihr Blick gebannt an dem Gespenst der Frau, das hinter seinem Rücken auftauchte. So konnte dem Mann – der ja übrigens seine Frau »nur peken« wollte und auf sie schon im Jahre 1885, da noch nicht die Ehe gebrochen, wohl aber ein Mittagessen nicht rechtzeitig fertig war, so mächtig einhieb, daß sie »zwei Monate krank lag und ihr Sprachvermögen verlor« – seine That nicht als Verbrechen zugerechnet werden. Der Rächer seiner Ehre, den die Franzosen im Mörder der Ehebrecherin sehen, war für die Wiener Geschwornen zugleich der Richter derer, die ihn entehrt hatte. Und auch ihr Henker. Aber weil die Formlosigkeit des hier vorausgesetzten Rechtsverfahrens, bei dem der Gatte die Untersuchung führt, anklagt, urtheilt, ohne eine Vertheidigung zuzulassen, und endlich das Urtheil auch eigenhändig vollzieht, die schwersten Bedenken erregt, müsste sogar der Zuckerbäcker selbst, der diesmal auf eigene Faust das Recht umdeutete, für die Zukunft eine Reform des Gesetzes verlangen: Wenn wirklich die Todesstrafe auf Ehebruch gesetzt sein soll, dann werde sie durch die Härte des Gesetzes verhängt, aber nicht zuerst durch den Gatten und nachträglich durch die gefühlvollen Mitbürger, die ihn freisprechen!
Fußnoten
* Den vier wahren Künsten, die das Wohlbefinden von Leib und Seele bewirken, entsprechen nach Plato vier Schmeichlerkünste: der Gymnastik die Putzkunst, der Heilkunde die Kochkunst (mitsammt der Zuckerbäckerei), der Gesetzgebung die Sophistik und der Rechtspflege die advocatorische Redekunst.
(Die Fackel: Nr. 117, 07.10.1902, S. 18-21)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=