Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Liebe Fackel!

Der lebhafte Streit der Meinungen, der über der Frage, ob eine Zeitung Ehre besitzt oder nicht, entbrannt ist, gibt mir den Anlass, Ihnen meine Ansicht als Mathematiker bekannt zu geben, nachdem schon so viele Juristen, ohne eine endgiltige Klärung der Sachlage herbeizuführen, gesprochen haben. Den juridischen Spitzfindigkeiten gegenüber hat die mathematische Methode – und ich werde zeigen, dass das Thema mathematisch fassbar ist – den Vorzug der klaren, folgerichtigen Entwicklung, die zu einem unanfechtbaren Resultat führt. Der mathematische Calcül muss zunächst die Administration einer Zeitung, den Körper ihrer technischen Herstellung und Versendung, ebenso das papierne Zeitungsblatt als Dinge, die ja ohnedies nicht in Frage kommen, aus der Betrachtung ausscheiden. Nur der Kopf der Unternehmung, die Redaction, fühlt sich in der Ehrenfrage getroffen und gekränkt; darum müssen wir auch nur ihre geistigen Fonds und Leistungen zu gliedern und mathematisch zu werthen trachten. Dies geschieht durch die nachstehende Anordnung der redactionellen Producte:
1) Annoncen, Empfehlungen, Anpreisungen, Verwerthung von Kaiserworten etc. – Setzen wir den Werth derselben gleich A, so wächst dieser mit der Dichte der Annoncen d, mit dem Volumen der Zeitung V und ist abhängig von einem Geschicklichkeits-, respective Täuschungscoëfficienten c, mit welchem der jeweilige Reclamezweck verdeckt werden soll. Aus diesen Grössen ergeben sich die Formeln:
d V = M, in Worten: Dichte × Volumen = Masse, und
M c = A, in Worten: Masse × Täuschungscoëfficient = Geldwerth der angeführten Leistungen. Dieser wird von den Auftraggebern entrichtet, vom Journal empfangen. Der Ehrenpunkt als Factor oder Coëfficient kommt in den Gleichungen nicht vor.
2) Mittheilungen uud Nachrichten. – Diese müssen gegliedert werden:
a) in Mittheilungen objectiver Art, nackte Thatsachen mit dem positiven Nachrichtenwerth + w‘ ohne Ehre;
b) in subjective, verdrehte oder entstellte Nachrichten mit dem negativen Schädlichkeitswerth – w“, der bei unbeabsichtigten Entstellungen Ehrenindifferenz, bei beabsichtigten Entstellungen ausgesprochene Ehrlosigkeit besitzt;
c) in dumme und unnütze Nachrichten (z.B. dass Herr Eisner von Eisenhof irgendwo anwesend war) mit dem Mittheilungswerth Null.
Den Gesammtwerth W = w‘ – w“ + 0 empfängt das Publicum gegen Bezahlung des Zeitungsblattes. Diese Gleichung enthält demnach gleichfalls die Grösse »Ehre« nicht. Da die unter b) eingereihten gefälschten Nachrichten auf Grund des § 19 zwangsweise berichtigt werden können, so entfällt auch hier jede freiwillige Ehrenregung, die nicht einmal dann vorhanden ist wenn der Betroffene die Berichtigung bezahlt.
3) Leitartikel, Beurtheilungen und Belehrungen aller Art und Abfassungen, welche sittliche Eigenschaften und ehrenhafte Gesinnung voraussetzen. – Die ehrenhafte Gesinnung G ist unter normalen Umständen eine Function der sittlichen Eigenschaften E, kann daher allgemein durch die Formel: G = f (E) (lies: ehrenhafte Gesinnung ist eine Function der sittlichen Eigenschaften) ausgedrückt werden. Es kann jedoch leicht bewiesen werden, dass diese Formel im gegebenen Falle in Oesterreich nicht anwendbar ist. Die Gesinnung des Journalisten muss zunächst als variable Grösse v aufgefasst werden, die zwischen Grenzwerthen v[SUB]o = 0 (Gesinnungslosigkeit) und v[SUB]m = Maximum (Parteiverblödung) in allen Zwischenwerthen veränderlich ist und die Elasticitätsveränderung der Gesinnung darstellt. Das Motiv der Veränderlichkeit ist die treibende Kraft K, die wieder von jener variablen Summe abhängt, die eine Finanzgruppe oder politische Partei zur Verfügung stellt. Wo also nach dem Hook’schen Gesetz die Veränderung der Gesinnung wie jede Elasticitätsänderung abhängig ist von der sie in Anspruch nehmenden Geldkraft, dort eliminiert sich der Factor »ehrenhaft« von selbst, der nur entweder den starren, dem Charakter nach unveränderlichen Materien zukommt oder solchen Veränderungen der Gesinnung, die auf Ueberzeugung und geänderten Lebensauffassungen beruhen, somit ehrliche, zwangsweise sich vollziehende Naturerscheinungen sind. Die Gesinnung einer Zeitung ist daher nicht eine Function der sittlichen Eigenschaften, nach Formel G = f (E), sondern eine Function der richtunggebenden Subventionen S und Cameraderien C, muss daher durch die Formel G = f (S C) (lies: Gesinnung ist die Function der Subvention und Cameraderie) ausgedrückt werden.
Da in den mathematischen Schlüssen und Formeln laut 1), 2), 3), welche alle geistigen Relationen der Zeitungen zusammenfassen, der Factor »Ehre« entweder gar nicht vorkommt oder aus den Gleichungen von selbst herausfällt, so erscheint die Frage, ob eine Zeitung ehrlos ist oder nicht, vollkommen aufgeklärt und keiner Erörterung bedürftig. Was zu beweisen war.
Ein Mathematiker.

(Die Fackel: Nr. 101, 28.04.1902, S. 21-23)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=