Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Der Liberalismus hat seit Jahren namentlich auf dem Wiener Markt eine starke Hausse in Märtyrern zu verzeichnen …. Wer gedenkt nicht der stimmungsvollen Art, in der die ‚Neue Freie Presse‘ das letzte Weihnachtsfest begangen hat? In der »literarischen Beilage« gab’s oben ein Poëm des Paprika-Schlesinger, unter dem Strich eine Novelle von Arthur Schnitzler. Jener war schon einmal, da er in der ‚Neuen Freien Presse‘ eigens für die Zwecke seines Schuhwarenlagers eine moderne und »staunend billige« Religionsauffassung versucht hatte, zum Märtyrer des Liberalismus geworden. Nun musste ein ähnliches Schicksal auch Herrn Arthur Schnitzler treffen. Ich würde die beiden Autoren, deren Begabungen ja in wesentlich verschiedene Richtung weisen – Schnitzler scheint der sensiblere –, nicht ernstlich nebeneinanderstellen, wenn nicht die Mitarbeit an demselben Blatt und eine gewisse Gemeinsamkeit der Leiden ihre Namen für den Augenblick verkettet hätten. Ja, würde sich Herr Schnitzler nicht zuweilen freiwillig in ein verrufenes Milieu begeben, so könnte es dem objectiven Urtheiler sogar erwünscht sein, ihn gegen die Flegeleien eines bornierten Rassenschriftthums, dessen Talente das seine zehnmal aufwiegt, ebenso in Schutz zu nehmen wie gegen die beleidigenden Verhimmelungen der Wiener Clique.
Und hätte Herr Schnitzler als ein still schaffender Künstler, als der er doch bis zum Beatrice-Scandal und bis zum »Lieutenant Gustl« gelten wollte, diese Novelle in einem literarischen Organ oder sogleich in Buchform veröffentlicht, kein Officiersehrenrath hätte sich bewogen gefühlt, ihn um einer militärfeindlichen Tendenz willen seiner militärischen Würde zu entkleiden. Aber die Officiere, die durch die Zeichnung eines bestimmten Typus von österreichischem Lieutenant den Stand beleidigt glaubten, durften hinter der Benützung eines Blattes, dessen Armeehass trotz gelegentlicher Anbiederung notorisch und dessen Friedensbedürfnis nichts als die rituelle Scheu vor einem Stahlbad ist, eine agitatorische Tendenz wittern. Ueber diesen Eindruck hilft die Versicherung, dass Herr Schnitzler eine »psychologische Studie« schreiben, einen »interessanten Einzelfall« behandeln wollte, nicht hinweg, und gegen den feigen Reinwaschungsversuch, den seine publicistischen Helfer unternehmen, wird sich nur der Autor selbst verwahren müssen. Die ‚Neue Freie Presse‘ hat – und das ist die höchste Ehre, die einem Irdischen widerfahren kann – der Angelegenheit des Herrn Schnitzler einen Leitartikel gewidmet. Liberale Entrüstung und Devotion hat sie darin anmuthig zu mischen verstanden. Aber der Ehrenmann, der ihn geschrieben und der den Lieutenant Gustl den zürnenden Herren Officieren als »sympathische Figur« wiederempfehlen möchte, hat entweder den Inhalt der Schnitzler’schen Novelle plump gefälscht, oder er hat sie bloß in jener Fassung gelesen, die ihr im größten Theile der Weihnachtsauflage der ‚Neuen Freien Presse‘ gegeben war. Durch mindere Sorgfalt beim Druck – es hat sich ja bloß um den Literaturtheil gehandelt – war nämlich der Schluss der Novelle abhanden gekommen. Dass Gustl »im Unglück wächst«, das konnten eben noch wohlwollende Leser des Fragments wahrnehmen, und mit dieser Versicherung endet auch die Inhaltsangabe des Leitartiklers. Dass aber Gustl, nachdem er erfahren, den Urheber und einzigen Zeugen seiner Schmach habe der Schlag getroffen, wohlgemuth weiterzuleben beschließt, ist die Pointe der Schnitzler’schen Auffassung eines Officierscharakters, der der ‚Neuen Freien Presse‘ jetzt vollends »sympathisch« erscheinen müßte, da er ja auf der ethischen Forderung, so da lautet: Der Schlag soll dich treffen! basiert …
Der Officiersehrenrath hat Arthur Schnitzler, den Landwehroberarzt in der Evidenz, wiederholt eingeladen, sich zu rechtfertigen und darüber auszusagen, ob ihm eine psychologische Absicht oder eine Tendenz gegen den Stand, dem er angehört, näher lag. Herr Schnitzler hat mit dem berechtigten Stolze des Künstlers und mit der unberechtigten Renitenz des Landwehr-Oberarztes die wiederholte Ladung ignoriert. Betrachten die freisinnigen Herren, denen die »Vorurtheile einer Kaste« altbewährter Leitartikelstoff sind, den einzelnen Conflict ihrer und der militärischen Anschauungen von der Höhe eines Wolkenkuckucksheim? Welcher von beiden Theilen hat denn das angestammtere Recht, enttäuscht zu sein? Die »voller Vorurtheile stecken« oder die Aufgeklärten? Und ist wirklich, wo eine Tactfrage zur Entscheidung kam, die »Freiheit künstlerischen Schaffens«, die aus Heinze-Stürmen glücklich Gerettete, bedroht? Herr Schnitzler hatte, als seine Landwehrpflicht abgelaufen war, die schönste Gelegenheit, einem Stande Valet zu sagen, dessen Anschauungen den seinen offenbar zuwider laufen, dessen Empfindlichkeit mindestens den schrankenlos Schaffenden beengen musste. Aber er scheint darauf Wert gelegt zu haben – ein ausdrückliches Gesuch nur konnte solchen Ehrgeiz verwirklichen –, dem Armeeverbande auch weiterhin, als Oberarzt in der Evidenz der Landwehr, anzugehören. Nun hat ihn ein grausames Geschick auf jene Stufe zurückgeschleudert, auf der er ohne Ueberreichung eines Gesuches nach Beendigung seiner Dienstpflicht fürs ganze Leben stehen geblieben wäre. Verdient solches Martyrium nicht das Mitleid aller human Denkenden, nicht die Leitartikel aller human Schreibenden? Ist es nicht schrecklich, so einfach abgeurtheilt zu werden, nachdem man die einzige Gelegenheit, sich zu vertheidigen, – von sich gewiesen hat? Ja, der Officiosus des Herrn Schnitzler in der ‚Wiener Allgemeinen‘ hat recht, wenn er treuherzig das Dichten, das »heutzutage bei der großen Concurrenz ohnehin kein Vergnügen ist«, nunmehr für ein »zu riskantes Geschäft« erklärt, wenn er das Ende alles künstlerischen Schaffens prophezeit, weil »es sich nun aufhören muss«, literarische Stoffe aus dem Milieu des eigenen Berufes zu behandeln … Aber die liberale Presse übertreibt. Und zwar nicht nur in der principiellen Auffassung der Affaire, sondern auch in der Bemessung des Martyriums, das Herrn Schnitzler auferlegt ward. Sie hat ihn ja sogar zum Regimentsarzt erhöht, um seinen Fall in die Tiefen des Civils umso schmerzlicher erscheinen zu lassen. Und wenn man ihr nun eröffnet, dass Herr Schnitzler bloß als Landwehr-Oberarzt degradiert wurde, so wird er ihr noch immer nicht als ein degradierter Landwehr-Oberarzt, sondern, doppelt bemitleidenswert, als ein degradierter Märtyrer erscheinen ….
Es fällt mir nicht ein, das Urtheil des Ehrenrathes, das mir einer Erklärung würdig schien, in seiner Gänze zu billigen. Recht bedenklich finde ich den zweiten Theil der Motivierung: Schnitzler habe auf eine aggressive Kritik seiner Novelle, die in einem Tagesjournale erschien, »nicht reagiert«. Ich weiß nicht, welches Tagesjournal gemeint ist. Aber wenn in diesem Vorwurf der unsympathische Hinweis auf das Duellgebot vermuthet werden dürfte, so müsste man bekennen, dass gerade vom Standpunkt eines Officiersehrenraths ein »Reagieren« auf die Meinungen der meisten Wiener Zeitungsschreiber unstatthaft wäre. Und jedenfalls kann man einem Schriftsteller, der auf sich hält, nicht zumuthen, dass er sich mit einem beliebigen Angreifer – im wirklichen oder bildlichen Sinne des Wortes – herumschlage. Aber der Ehrenrath, der durch die Meinung, dass man auf eine Kritik reagieren muss, seine Unkenntnis der literarischen Verhältnisse bewiesen hat, maßt sich auch gar nicht an, die literarische Production des Herrn Schnitzler – der ja sonst schon nach seinem viel verdächtigeren »Freiwild« gemaßregelt worden wäre – ihrem bloßen Inhalt nach zu beurtheilen. Herr Schnitzler ist gestrichen worden, weil er nicht höflich genug war, vor dem Officiersehrenrath zu erscheinen und dort zu erklären, dass ihm eine gehässige Tendenz gegen den Stand, dem er sich freiwillig angegliedert hat, ferne gelegen sei und dass er für die Anrüchigkeit des Ortes, an den er sich mit einer psychologischen Studie ahnungslos begeben, nicht verantwortlich gemacht werden wolle.

(Die Fackel: Nr. 80, Mitte Juni 1901, S. 20-24)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=