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Der Münchener Ingenieur Wenng hat jüngst Herrn Dr. Lueger einen silbernen Lorbeerkranz und die Anerkennung der bayerischen Christlichsocialen überbracht. Darüber gerieth begreiflicherweise unsere freisinnige Presse in helle Wuth. Sie hat ja seit Jahren behauptet, christlichsocial und clerical seien ein und dasselbe, und ihre Leser glaubten darum, der christlichsociale Herr Wenng sei als der Beauftragte der bayerischen Clericalen, der stärksten Partei im Lande, nach Wien gekommen. In Wahrheit stehen Clericale und Christlichsociale in Bayern einander ebenso feindlich gegenüber wie bei uns in Tirol, und Herr Wenng ist nicht von der mächtigen bayerischen Centrumspartei, sondern nur von den paar hundert Anhängern der dortigen »christlichen und antisemitischen Partei« nach Wien gesandt worden. Dass er hier im Namen Münchens sprach, ist keine geringere Ueberhebung, als wenn etwa ein Noske für Wien das Wort zu führen sich erdreistet oder die liberale Journalistik in der »Concordia« sich für die Repräsentanz der Wiener Schriftsteller ausgibt. Aber so wenig auch die Sympathien der Gefolgschaft des Herrn Wenng für den Wiener Bürgermeister bedeuten mögen, so wertvoll war für ihn eine Kundgebung, zu der der Besuch aus München die Gelegenheit bot. In diesen Tagen, in denen die liberale Presse den Antisemitismus, den sie einst durch Todtschweigen zu vernichten hoffte, immer wieder todtsagt und dadurch wirklich schon getödtet zu haben glaubt, ist der Antisemitismus zum erstenmal officiell anerkannt worden. Bisher fand er bloß als »christlichsociale Partei« – ein Titel, dessen Pflichten er höchstens ein paar Wochen im Jahre erfüllt und den er sonst nur auf der Visitkarte führt – zu den höchsten Kreisen Zutritt, so wie ein Commis seine Reserve-Officiers-Uniform anlegt, um bei der Frühjahrsparade oder gar beim Hofball in die Nähe des Kaisers zu gelangen. Jetzt aber wurde »den im Wiener Rathhause versammelt gewesenen Vertretern der Wiener und Münchener christlichen und antisemitischen Partei« der Dank des Kaisers ausgesprochen. Die liberale Presse hat von diesem kaiserlichen Dank nicht weiter Notiz genommen. Ihr ist es gleich zuwider, wenn von »christlich-social« und wenn von »christlich und antisemitisch« die Rede ist. Und außerdem bezahlt ja auch der Bürgermeister den Abdruck der an ihn gerichteten Kaiserworte nicht. Die freisinnige Journalistik hat also gar keinen Grund, Herrn Dr. Lueger freiwillig die Reclame zu machen, die ein Brotfabrikant oder ein Kunsttischler für schweres Geld erkaufen müssen.
(Die Fackel: Nr. 79, Anfang Juni 1901, S. 13-14)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=