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Der unmäßige Antialkoholismus scheint auf die Gehirnthätigkeit des Menschen ebenso ungünstig einzuwirken wie der Alkohol. Der Congress, der neulich in unserer Stadt tagte, hat immerhin den praktischen Erfolg gehabt, dass man eine ganze Reihe bedauernswerter Opfer jener Bewegung kennen lernen und die typischen Verfallserscheinungen, die ein durch Jahre fortgesetzter Genuss einer fixen Idee gezeitigt hat, studieren konnte. In diesem Sinne waren uns natürlich auch die publicistischen Helfer des Antialkoholiker- Congresses willkommen. In der ‚Zeit‘ hat sich ein Herr Dr. M. Hirschfeld, Arzt in Charlottenburg, zum Worte gemeldet, dem man das Bestreben anmerkt, alles Schlechte auf dieser Welt, folglich auch die lex Heinze, dem Alkohol aufs Kerbholz zu setzen. Ohne uns den Zusammenhang von Trunkenheit und Prüderie näher zu erklären, schreibt er den tiefsinnigen Satz hin: »Wenn Menschen das Natürliche anstößig, das Nackte ‚unanständig‘ vorkommt, so trägt die chronische Alkoholisierung großer Bevölkerungsschichten hieran mehr Schuld, als man gewöhnlich annimmt.« Herr Dr. Hirschfeld begnügt sich aber nicht mit der Versicherung, dass der Enthaltsame der Sittlichkeitsseuche gegenüber immun ist. Wichtiger scheint ihm selbst der Nachweis, dass auch allen anderen Infectionskrankheiten der Trinker eher anheimfällt, als der Feind des Alkohols. Man möchte nun meinen, dass dies eine längst beglaubigte, statistisch tausendmal erhärtete Thatsache ist. Aber Herr Dr. Hirschfeld hält es nicht für überflüssig, sie noch mit einem schlagenden Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit zu belegen. »Der Einzige«, ruft er, »welcher bei den Wiener Pestfällen mit dem Leben davon kam, Dr. Pöch, war total abstinent.« Man wird zugeben, dass ein solcher Gedankengang nur in einem sehr vorgerückten Stadium von Antialkoholismus möglich ist. Der Wiener Laboratoriumspest sind drei Menschen zum Opfer gefallen; Dr. Müller wäre, hätte er sich nicht bei der Reinigung des Krankenzimmers inficiert, am Leben geblieben, und weder ihm noch dem Diener und der Wärterin, die starben, hat damals irgend jemand Trunksucht nachgesagt. Herrn Dr. Hirschfeld ist bloß bekannt, dass Dr. Pöch – außer ihm kamen noch zwei Nonnen mit dem Leben davon – enthaltsam ist. Wahrlich, eine Statistik, die ihresgleichen sucht! Aber taktisch klug ist es nicht, in einer Zeit, da es die Trunksucht zu bekämpfen gilt, die erschreckenden Wirkungen des Antialkoholismus zu zeigen.
(Die Fackel: Nr. 76, Anfang Mai 1901, S. 9-10)
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=