Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Die Gehirnerweichung war neulich zu einer Orgie geladen: Das Wien der Zeitungen empfieng den deutschen Kronprinzen. Soweit die politische Ausschlachtung des Ereignisses in Frage kommt, war höchstens die übliche fortschrittliche Paralyse zu verzeichnen, die sich in der Vision einer »Festigkeit des Dreibundes« äußert. Erst im »localen Theil« waren die Aufgaben einer systematischen Verblödung »voll und ganz« erfasst. Das Losungswort des Tages war: »Jugendfrisch.« Mochte die Gestalt des deutschen Kronprinzen auf dem Perron des Nordwestbahnhofes, in der evangelischen Kirche, beim Galadiner oder im Théâtre paré auftauchen, sie war und blieb jugendfrisch. Es versteht sich von selbst, dass anlässlich der Ankunft des Gastes »auf das kalte, unfreundliche, regnerische Wetter der letzten Tage ein frischer, heller Morgen« gefolgt war und dass man es »schon in den frühesten Morgenstunden an der Stadtphysiognomie merkte, dass Wien einen Festtag habe«: »Im Glanze der Morgensonne flutete durch die Gehalleen eine festlich geputzte Menschenmenge.« Was wurde an dem Tage »neuerdings bewiesen«? Dass »die Wiener Disciplin einzuhalten verstehen«. Wie war das Aussehen des Monarchen auf dem Bahnhof? Ein »blühendes«. Und er gieng, »obwohl eine kühle Brise durch die Halle fegte«: – »ohne Mantel«. Was hielt ein Mann empor, als die kaiserliche Equipage auf dem Stubenring anlangte? Ein Bittgesuch. Was wurde der Mann hierauf? Verhaftet.
Und nun das Galadiner! Nachdem Schmock schon das Gefrorne erwähnt hat, ruft er: »Die Musik löste die Zungen.« Der jugendfrische Kronprinz begann, als ob man ihn aufgezogen hätte, mit der Erzherzogin Maria Josepha zu plaudern, »bald so angelegentlich, dass Beide lachten.« »Vor dem Servieren des Bratens und als der Champagner eingeschänkt wurde, bemerkte man jene eigenthümlich gespannte Stimmung ….« Begann der Dreibund zu wackeln? Nein, gemeint ist jene eigenthümlich gespannte Stimmung, »welche dem Abhalten von Toasten vorausgeht«. »Hofrath v. Loebenstein gab das Zeichen, dass jetzt vollständige Ruhe herrschen müsse.« Und die Theilnehmer an der Hoftafel wissen so gut Disciplin einzuhalten wie die Wiener. »Der Kaiser nahm einen Bogen aus der Brusttasche seines Waffenrocks, setzte den Zwicker auf und erhob sich. Als alle Gäste seinem Beispiel gefolgt waren ..« Nach dem Kaiser, der mehr väterlich gesprochen hatte, sprach der Kronprinz, der wieder in seiner Art, nämlich mehr jugendfrisch, sprach. Ueber seine Rede äußert sich das ‚Neue Wiener Tagblatt‘: »Und wenn er auch langsam die einzelnen Sätze sprach, manchmal zögerte oder Pausen machte, er fand doch immer das richtige Wort und den Ausdruck, der ihm ziemte – er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er wusste, was er sagen wollte.« Kein Wunder! Denn die ‚Neue Freie Presse‘ verräth uns, dass der Prinz »ein Blatt Papier in seiner Hand hatte«. Sie weiß aber auch zu melden, dass der Kronprinz »mit entschieden norddeutschem Accent« sprach. Gibt es Trompeten, die Hoch rufen können? Das ‚Neue Wiener Tagblatt‘ scheint es zu glauben: »Wie eine Trompete«, versichert es, »schmetterte der junge Prinz sein Hoch in den Saal hinein.« Der Vertreter der ‚Neuen Freien Presse‘ hat wiederum für optische Effecte einen fein entwickelten Sinn. Er machte schon auf dem Perron eine eigenthümliche Beobachtung: »Der jähe Farbenwechsel auf dem von einem knospenden blonden Schnurrbärtchen gezierten Gesichte verrieth die innere Bewegung, welche den Prinzen in dem Augenblick erfüllte, als er, an der Rechten seines väterlichen Freundes schreitend, zum erstenmale im Auslande die schwere Bürde der Repräsentation auf seinen Schultern ruhen fühlte. Doch währte dieser seelische Zustand kaum zwei oder drei Secunden ….«
Die Loyalitätsreporter haben uns nichts verheimlicht. »Aussprechen, was ist«, war stets ihre Devise. So wurde uns denn vom ‚Extrablatt‘ der Name des Fiakerkutschers verrathen, der den Kronprinzen mit den Worten: »Steig’n S‘ eini, kaiserliche Hoheit!« zu einer Praterfahrt animiert hatte, und wir erfuhren auch, dass der Kronprinz auf dem Balle bei Hofe bei der Damenwahl »25 Mascherln« erhalten und zehn Bouquets ausgetheilt hat. Ja, es wurde uns sogar erzählt, was er mit den »Mascherln« gethan hat. »Als er sah, dass die Erzherzoge die erhaltenen ‚Mascherln‘ auf den Aermel steckten, steckte auch er zwei von den Damenspenden, die er von den Erzherzoginnen erhielt, auf den Aermel seines Rockes, während er die übrigen in den beiden Rocktaschen verwahrte.« Der deutsche Kronprinz hat also anlässlich seiner Wiener Anwesenheit zwei Mascherln und den Dreibund befestigt ….

(Die Fackel: Nr. 74, Mitte April 1901, S. 8-10)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=