Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

Registriert seit: 05.09.2012

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Vorbemerkung: Der folgende Artikel ist nicht nur aus verschiedenerlei Gründen interessant und von (auch aktueller) Relevanz, sondern zeigt außerdem mit manchmal schmerzlicher Deutlichkeit, dass Karl Kraus keineswegs immer ein verlässlicher Leuchtturm progressiver Humanität war, sondern gelegentlich auch Anzeichen von kaltschnäuzigem Wohlstandschauvinismus aufwies. Manchen früheren Artikel habe ich hier nicht gepostet, weil der geradezu verächtliche Antizionismus, der darin zum Ausdruck kam (Kraus vertrat mit Vehemenz die Forderung nach Assimilation der Juden, die er selbst als kaisertreuer Patriot praktizierte), nach Auschwitz keinen Bezug mehr findet. Hier dagegen zeigt er sich mit seiner Abwehrhaltung gegen (ostjüdische) Armutsflüchtlinge sozusagen ganz „postmodern“, und die abschließende Sottise gegen Theodor Herzl ist durchaus amüsant und hat auch letztlich den Ausschlag für mich gegeben, diesen Artikel hier zu posten.

Als um Mitte Juni die Scharen jüdischer Paupers und Militärflüchtlinge aus Rumänien nach dem Westen zu ziehen begannen, gerieth die Bevölkerung aller civilisierten Länder in Unruhe. Einmüthig forderte die Presse in England, Canada, Argentinien die Regierungen auf, zur Abwehr solchen Zuzugs wirksame Maßregeln zu ergreifen; und die diplomatischen Vertretungen der Vereinigten Staaten von Nordamerika wurden beauftragt, die Bestimmungen, die die Landung derartiger Auswanderer an den nordamerikanischen Küsten verbieten, in den osteuropäischen Blättern neuerlich zu publicieren. Erinnerte man sich doch allenthalben und zumeist in England, dem Land des freien Asyls, der verderblichen Wirkungen, die sich vor einigen Jahren aus der Zulassung der russischjüdischen Emigranten ergeben haben. Der englische Arbeiter forderte Schutz gegen eine neue Bedrohung seiner wirtschaftlichen Lage, und den Hütern des moralischen standard des englischen Volkes klangen die Worte im Ohr, die wenige Monate, nachdem die russischen Juden im Osten Londons sesshaft geworden waren, ein hervorragender englischer Richter in öffentlicher Sitzung zu sprechen sich bemüssigt sah: dass Verbrechen, die England seit Jahrzehnten fremd geworden seien, sich gegenwärtig auf der Tagesordnung des Gerichtshofs befänden.
Unmittelbarer als die Seestaaten war Oesterreich durch die Auswanderung aus Rumänien bedroht, und uns Westösterreichern, die durch den galizischen Pauperismus so viel zu leiden haben, musste es doch klar sein, dass fremde Paupers im Reiche keine Aufnahme finden dürfen. Einmüthig, hätte man erwarten sollen, würde also unsere Presse verlangen, dass man die rumänischen Juden die Grenze nicht überschreiten lasse, sie wiesen denn zuvor nach, dass sie die Monarchie ohne Aufenthalt passieren werden. Aber wer von unserer liberalen Presse solches erwartet hat, hatte vergessen, dass Schmocks Nachkommen nicht nur die Gesinnungslosigkeit und Unbildung, sondern auch die Sentimentalität des Ahnherrn eignet. Immer wieder bestimmt ihr warmes Gefühl ihr Urtheil über die Ereignisse. Als im letzten Winter hunderttausend österreichische Kohlengräber heroisch litten, welche Unsummen haben sich’s da die Unternehmer kosten lassen müssen, um die liberale Presse zu bestimmen, dass sie ihr Gefühl schweigen heiße und nüchtern die wirtschaftlichen Folgen erwäge, die sich aus der Gewährung der Forderungen der Strikenden ergeben würden. Angesichts der Leiden der rumänischen Auswanderer aber war Schmock nicht zu halten: hier war nicht nur sein Menschenherz verletzt; sein jüdisches Gewissen bäumte sich auf, und die rumänische Regierung hatte es zu büßen, dass sie ihm nicht rechtzeitig goldene Zügel angelegt hatte. Die Pinsel, die Leitartikel und Economist schreiben, malten Grau in Grau Rumäniens politische und financielle Lage, der locale Theil wiederhallte von Seufzern und Stöhnen über das klägliche Schauspiel, das die Lager der Auswanderer boten, und die Kritiker drohten mit Repressalien an den Dichtungen der Königin von Rumänien. Der strafende Satiriker Julius Bauer stieß mit seinen platten Versfüßen nach der fürstlichen Dichterin, die er wie alte Hofschauspieler bisher »über ihre Kräfte gelobt« hatte. Carmen Sylva aber begann für das Schicksal ihres nächsten Werkes zu zittern.
Spät genug erinnerte sich die österreichische Regierung ihrer Pflicht und traf Anstalten, die rumänischen Einwanderer von Wien abzuschaffen. Schon wollte die liberale Presse diese Maßnahmen als Ausfluss antisemitischer Gesinnung rügen, als sie rechtzeitig erfuhr, dass erst die Energie, mit der die liberale ungarische Regierung gegen die rumänischen Juden vorgieng, der unseren Muth gemacht hatte. Da hieß es schweigen. Und auch die letzten Empörungsrufe verstummten, als fast zur selben Zeit eine Ministerkrise in Rumänien Herrn Carp zur Regierung brachte, der, wohlvertraut mit westeuropäischen Sitten, den Weg zur ‚Neuen Freien Presse‘ zu finden und sie so völlig umzustimmen wusste, dass argwöhnische Menschen durch den Reclameartikel, den das Blatt dem neuen Minister widmete, und durch den Eifer, mit dem es seither Rumäniens Interessen in dem Conflict mit Bulgarien vertreten hat, auf den Gedanken gebracht wurden, Herr Carp müsse wohl seine reformatorische Thätigkeit mit einer Erhöhung des Dispositionsfonds begonnen haben.
Ganz erfolglos ist aber die Campagne für die rumänischen Juden doch nicht geblieben. Die ‚Neue Freie Presse‘ hat eine Sammlung für sie eröffnet, und unser gebildetes Bürgerthum, das bekanntlich den Leserkreis des Blattes bildet, ist ihrem Rufe gefolgt: Gegen 16.000 Kronen sind durch Vermittlung der ‚Neuen Freien Presse‘ bisher den rumänischen Juden zugeflossen, und täglich langen neue Spenden ein.
Unser »gebildetes Bürgerthum« macht neuestens erfreuliche Fortschritte im selbständigen Denken. Ehedem hat es wahllos den Winken der ‚Neuen Freien Presse‘ gehorcht. Was sie verfocht, hat es zu seiner Sache gemacht. Wie anders heute! Ja, wenn es sich um Dreyfus oder um rumänische Juden handelt, glaubt man der ‚Neuen Freien Presse‘ noch. In auswärtigen Dingen gilt sie als wohlinformiert. Wenn sie aber von österreichischen Angelegenheiten spricht, findet sie überall taube Ohren.
Da hatte kürzlich Herr Dr. Herzl einen seltsamen Einfall. Der zukünftige Bewohner der Luftschlösser von Zion (erbaut vom Architecten Marmorek) war beim Nachsinnen über die kürzeste Route, auf der sie zu erreichen wären, zum Problem des lenkbaren Luftschiffs gelangt und vernahm, es gebe hier in Wien einen genialen Erfinder namens Kress, dem zur Ausführung eines Luftfahrzeugs, in dem Oesterreichs hervorragendste Theoretiker und Praktiker die beste bisherige Lösung des Problems erblicken, die Bagatelle von 20.000 Kronen fehlt. Soll Kress das Schicksal des Erfinders der Schiffsschraube und anderer österreichischer Erfinder theilen? Der künftige König von Zion erinnerte sich, dass er bis auf Weiteres noch österreichischer Patriot ist, und beschloss von der Macht, die das führende Blatt unseres gebildeten Bürgerthums ausübt, zu Kress‘ Gunsten Gebrauch zu machen. Ein Sonntags-Feuilleton erzählte den Lesern, die eben gehört hatten, dass Deutschland der trügerischen Hoffnung des Grafen Zeppelin eine Million Mark geopfert habe, wie in Oesterreich inzwischen das Modell eines Drachenfliegers construiert worden sei, der das Luftschiff der Zukunft sein werde, und wie hier die Aussicht winke, dass eine der größten Culturthaten von einem Oesterreicher vollbracht werde – wenn er nur noch 20.000 Kronen erhalte. Es brauchte also nichts weiter, als dass jeder Abonnent der ‚Neuen Freien Presse‘ eine halbe Krone hergebe ….
In ihrem Morgenblatt vom 7. August hat die ‚Neue Freie Presse‘ das vorletzte Verzeichnis der Spenden veröffentlicht, die ihr für die rumänischen Juden übergeben wurden. Es füllt dreiviertel Spalten. Darunter werden in vier Zeilen die Beiträge veröffentlicht, die der Administration für den Fonds zur Inbetriebsetzung des Kress’schen Luftschiffes zugekommen sind. Für die rumänischen Auswanderer hat die ‚Neue Freie Presse‘ 14.143 Kronen 56 Heller, für Kress 273 Kronen gesammelt. Am 15. August folgte ein weiterer Ausweis der Spenden, die in einer Woche, vom 7. bis 14., für die rumänischen Juden eingeflossen waren: 942 Kronen 94 Heller. Ein neuer Ausweis von Beiträgen für den Fonds zur Inbetriebsetzung des Kress’schen Luftschiffes wird bis auf weiteres nicht veröffentlicht werden. Herr Kress drängt ja nicht. Das gebildete Bürgerthum von Wien hat ihm 273 Kronen zur Verfügung gestellt. Es ist also zu hoffen, dass auch die restlichen 19.727 Kronen noch aufzubringen sein werden.

(Die Fackel: Nr. 50, Mitte August 1900, S. 8-12)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=