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Ausgabe nach der Confiscation.
Die Fackel
NR. 41 WIEN, MITTE MAI 1900 II. JAHR
In wenigen Tagen werden die Wiener Gemeinderathswähler »zu den Urnen gerufen« werden. Die Ehrlichsten freilich, die nach eigener Ueberzeugung zu handeln noch nicht verlernt haben, werden dem kreischenden Ruf kaum folgen wollen. Aber auch jenen, die längst in politischen Dingen sich beschieden haben, das kleinere Uebel zu wählen, ist diesmal die Wahl nicht leicht. Eine mehrjährige Herrschaft der christlichsocialen Partei hat manche Hoffnung, die an ihr erstes Auftreten geknüpft ward, enttäuscht. Die Unthätigkeit in der liberalen Aera ist allerdings einem starken Thätigkeitsdrang gewichen. Aber wie oft ward dieser Drang auf Abwege geleitet! Klägliche Unerfahrenheit hat bisweilen die Geschäfte dieser Stadt geführt: so ward der Sieg, den die österreichische Technik bei den Wiener Gaswerken errang, um einen Wucherpreis erkauft. Und die stärksten Waffen, die die Commune der Tramwaygesellschaft gegenüber besitzt, mussten ihr von Gegnern der christlichsocialen Partei förmlich aufgedrängt werden. Immerhin, manches Nützliche ist geschaffen worden, die neuen Schulden – Herr Lueger, kein Meister im Lernen, hat wenigstens die naive Angst vor dem Schuldenmachen rechtzeitig zu verlernen gewusst – sind zumeist productiv, und die Verwaltung ist ihren ruhigen Schritt weitergegangen: Dieselben Magistratsbeamten, die einst liberalen Stadträthen die Referate anfertigten, haben seither den christlichsocialen Stadträthen keine schlechteren geliefert. Dass die ungeübten neuen Männer beim Ablesen manchmal stockten, wenn’s schwierige Fremdwörter gab, konnte der Sache nicht schaden.
Aber was ist aus dem moralischen Reinigungswerk geworden, das wir so freudig begrüßten! Einem corrupten Capitalismus hatte der Kampf gegolten und einer Intelligenz, die theils um theures Geld die Arbeit der Corruption verrichtete, theils, der eigenen guten Absicht sich bewusst und bei ihr sich bescheidend, in hochmüthiger Verblendung übersah, was um sie vorgieng; einer Intelligenz, die, wo Koth war, nicht fegte, sondern Galloschen anzog und sich um die Verunreinigung des öffentlichen Lebens nicht weiter kümmerte. Der Capitalismus ward geschlagen, die satte Unmoral von der Tafel verdrängt, an der sie noch verdaute. Aber unter den Siegern gab es allzuviel Hungrige. Machtlos musste der Führer mitansehen, wie sie zu essen begannen. Die besten Bissen waren freilich schon weg. Aber noch gab’s manches Süpplein, das man auslöffeln konnte; und wenn die Löffel aus Silber waren, verschwanden sie bisweilen. Der Millionencorruption der Millionäre war die Fünfguldencorruption der Fünfguldenmänner gefolgt. Gleich ruhmlos endete auch der Kampf gegen die Corruption der Intelligenz. Weil mancher Besserwisser als nichtsnutziger Bursche entlarvt war, wurde das Dogma aufgestellt, die Nichtswisser allein seien die ehrlichen Leute. Und wenn man schließlich doch der Intelligenz bedurfte, scherte man sich wenig darum, dass die Intelligenz im eigenen Lager vielfach kaum minder corrupt war, als die liberale Intelligenz.
So sind heute die Unbefangensten zu entschiedenen Gegnern der Wiener Christlichsocialen geworden. Eines aber befürchten sie zumeist: dass aus der Abneigung gegen die herrschende Partei diejenigen Nutzen ziehen könnten, von deren Ueberwindung sie den Beginn einer besseren Zeit erhofft hatten, – die Liberalen. Ist es nicht ein unsäglich trauriger Anblick, wie mit dem herabgekommenen Rest dieser Partei sich heute tüchtige und moralische Männer in der gleichen Blindheit verbünden, die schon einmal zur Niederlage unserer bürgerlichen Intelligenz geführt hat? Ein Gutes hatte der christlichsociale Sieg gehabt: Die Redlichen waren zur Besinnung gekommen, hatten sich ganz aus dem politischen Leben zurückgezogen oder hatten versucht, eine ernste Opposition gegen den Liberalismus um sich zu sammeln. Von denen verlassen, deren gute Namen früher die Thaten der Nutznießer der Corruption deckten, war der Liberalismus rasch herabgesunken. Schließlich führte er einen öden Schimpfwörterkampf gegen einige Anhängsel der christlichsocialen Partei, und wer nicht zum Pöbel gehört, hat nie der Frage nachgesonnen, ob wohl das Rüpelthum eines Noske das eines Gregorig aufwiege. Jetzt, da die Wahlen bevorstehen, vermag der Liberalismus nicht einmal ein Communalprogramm aufzustellen. Und anstatt einen Rückblick auf die eigene Vergangenheit zu werfen, spricht er von Corruption der Christlichsocialen, von der Entehrung Wiens, von der Verletzung der moralischen und materiellen Interessen der Stadt. Die Neue Freie Presse‘ klagt darüber, dass der Gemeinderath mit dem Fortschritt auf intellectuellem und sittlichem Gebiete sich nicht in Uebereinstimmung befinde, und das Rüpelthum im öffentlichen Leben Wiens wäre Herrn Bacher, der den lange Nasen machenden Lucian Brunner wohl als Helden feiert, unerträglich, wenn es ihm nicht gelungen wäre, »in die besseren Kreise der Wiener Gesellschaft einzudringen«, die den Eindringling durch ihre feine Lebensart bezaubert haben.
Das Bündnis mit dem Liberalismus mag heute die Wenigen, die in unsrem öffentlichen Leben sich noch nicht compromittiert haben, compromittieren. Dass es den alten Verderbern unsres Stadtwesens neue Mandate einbringe, ist nicht ernstlich zu befürchten. Die wichtigeren Gegner der Christlichsocialen sind die Socialdemokraten. Auch diese Partei hat die Wirkungen des intellectuellen und moralischen Niedergangs unsres öffentlichen Lebens reichlich verspürt. Wer von ihrem Eintritt in die Politik eine Hebung des politischen Niveaus erhofft hatte, ist jetzt bereits stark ernüchtert. Aber hier darf man die Zuversicht noch nicht sinken lassen. Die Socialdemokratie hat ein ernstes Communalprogramm aufgestellt, ihre Männer sind zwar unerprobt, aber auch noch unverbraucht. Wer wählen will, mag sie wählen. Die Ellenbogen, Pernerstorfer, Reumann werden als Väter der Stadt keine üble Rolle spielen. Und Herrn Habakuk wär’s schon darum zu gönnen, dass er in die Rathsstube kommt, weil er dann rasch den Weg zum Rathsherrnstüberl finden würde.
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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=