Re: Lesefrüchte

#8674639  | PERMALINK

hal-croves
אור

Registriert seit: 05.09.2012

Beiträge: 4,617

Wann das 20. Jahrhundert zu beginnen hat, darüber konnten sich die Zeitungsgelehrten nicht einigen. Aber jedenfalls steht fest, dass die leidenschaftliche Discussion der Frage, ob der Philister schon jetzt oder erst übers Jahr Säcularempfindungen hegen dürfe, noch eine Errungenschaft des 19. Jahrhunderts ist. Mehrere Zeitungen haben eine Rundfrage an mehrere Gelehrte ergehen lassen, die mit abgeklärtem Ernst dem bedeutsamsten Problem zweier Jahrhunderte nachsannen. Ein Blatt störte diese emsige Denkarbeit und entschloss sich rasch, die ersten Männer des Landes mit der andern Frage zu überrumpeln, welches Ereignis sie »als das für Oesterreich wichtigste im 19. Jahrhundert« bezeichnen würden. Und siehe da, Herr Professor Fournier, Abgeordneter von Bodenbach und Umgebung, erklärte, dass er das Jahrhundert noch nicht für beendet halte und dass »immerhin noch im nächsten, letzten Jahre desselben Dinge vorfallen können u.s.w.«. Freiherr v. Bezecny gibt klipp und klar Auskunft; er hält offenbar seine Rückberufung auf den Posten des Hoftheater-Intendanten im »nächsten, letzten Jahre« nicht für wahrscheinlich. Für Frau Marie Boßhardt van Demerghel ist der Völkerfriede das wichtigste Ereignis, und sie erwartet bestimmt, dass er noch in diesem Jahre erscheinen wird. Herr Dr. Glossy hinwiderum führt die »Aufhebung der Censur« an, die nach seiner Ansicht bereits vollzogen ist; für ihn handelt es sich jedenfalls um die Streitfrage, ob das 20. Jahrhundert 1900 oder 2000 beginne. Auch der Polizeipräsident Habrda gibt eine ähnlich utopische Antwort; eines der wichtigsten Ereignisse sei für ihn die »Erkenntnis und Bethätigung der Humanität«, namentlich auf dem Gebiete der polizeilichen Pflege, auf dem sie »bereits zum vollen Durchbruch gelangt«. Die Zustände im Gefangenhaus in der Theobaldgasse, wo ja Taschendiebe keine schlechtere Behandlung als Wahlrechtsdemonstranten erfahren, bestätigen das Gesagte. Dass die Wiener Polizei eine »Wohlfahrtsbehörde« ist, hat sie in den Maitagen bewiesen. Die beispiellosen Brutalitäten, deren Schauplatz die Ringstraße im 19. Jahrhundert öfter war, stützen auch die weitere Behauptung des Herrn Habrda, dass »das Moment der Oeffentlichkeit bei den Gestionen der Polizei immer mehr in den Vordergrund tritt, weil ihre Amtsführung nichts zu verbergen hat«. Seitdem Wien ein Museum mit künstlerischen Verklärungen polizeilichen Wohlthuns besitzt, scheinen die Gestionen unserer Polizei von den Suggestionen unseres Polizeipräsidenten unterstützt zu werden … Die Fürstin Pauline Metternich hat sich, wie die Redaction freudig mittheilt, am frühesten mit der Antwort eingestellt. Sie vermeidet es, von Familienangelegenheiten zu sprechen und etwa, wie so viele Theilnehmer an der Enquête, das Jahr 1848 als das für Oesterreich wichtigste Ereignis zu bezeichnen; auch die Erwähnung des ersten Blumencorsos hat man in ihrer Antwort vermisst. Frau Wisinger-Florian meint kurz und bündig: »Die Erfindung der Elektricität«, wiewohl es doch eine Thatsache ist, dass, selbst wenn für Oesterreich die Elektricität eigens hätte erfunden werden müssen, am Ende des Jahrhunderts in Wien Gaswerke gebaut worden wären. Frau Bertha Suttner schweigt in ihrer Antwort das Manifest des Czaren todt und erklärt, obwohl doch Anzengruber, Anastasius Grün und Grillparzer von einander ganz getrennt und zu verschiedenen Zeitpunkten auf die Welt kamen, »das Aufgehen des Dreigestirns« für das eine beträchtliche Ereignis. – Auch Herr Kestranek, der Centraldirector der Prager Eisenindustriegesellschaft wurde um seine Meinung befragt. Er erbittet sich einen kleinen Aufschub, da »vielleicht schon im nächsten Jahre« ein Ereignis eintreten könne, das als das wichtigste zu bezeichnen sein würde. Nun ja, das Eisencartell soll im Laufe dieses Jahres die Werke des Erzherzogs Friedrich und des Grafen Andrassy erwerben und damit endlich in Oesterreich das Monopol für Eisenwucher erlangen. Die »freundlichsten Grüße«, die Herr Kestranek schon jetzt an die Redaction sendet, sind jedenfalls höchst verdächtig. Hofrath Eger antwortet schlicht und ruhig: »Der Ausgang des Krieges vom Jahre 1866.« Dass ein Generaldirector der Südbahn gerade ein unglückliches Ereignis für das wichtigste erklärt, ist gewiss bezeichnend. Aber dann war Bescheidenheit nicht am Platze, und Herr Eger hätte in aller Seelenruhe die Katastrophe von Mödling, von Klagenfurt oder Kalsdorf, oder geradeheraus die Eröffnung der Strecke Wien–Triest nennen können. Am verblüffendsten ist jedenfalls die Antwort des Ritters von Taussig. Der Vicepräsident der Waffenfabriksgesellschaft, gegen den zwar eine Untersuchung eingeleitet, jedoch bekanntlich nach kurzer Zeit schon eingestellt wurde, erbittet sich trotzdem »ein Jahr Bedenkzeit«. Aber dann ist ja die Sache längst verjährt, und nicht einmal wir können gegen den Einstellungsbeschluss Berufung einlegen.

(Die Fackel: Nr. 29, Mitte Jänner 1900, S. 23-26)

--

"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=