Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

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Die Fackel

NR. 18 WIEN, ENDE SEPTEMBER 1899

Der Führer der deutschen Socialdemokratie, der noch in hohen Jahren wie einst in jungen für Wahrheit und Gerechtigkeit in ernsten Kämpfen gestritten und gelitten hat, Wilhelm Liebknecht bereitet mir die Freude, mit dem rückhaltlosen Freimuth, der ihm immer eigen war, in meinem Blatte über die Dreyfussache sich zu äußern:

NACHTRÄGLICHES ZUR »AFFAIRE«.

I.

Ueber die »Affaire« soll ich Ihnen schreiben, und ich war auch so leichtsinnig, es zu versprechen, nicht bedenkend, dass es mir gerade jetzt, unmittelbar nach meinen Ferien und vor unserem Parteitag, wo so vieles zu thun ist, an der zur Erfüllung des Versprechens nöthigen Zeit fehlt. Indes versprochen ist versprochen – auch wenn man sich dabei versprochen oder verschrieben hat –, und so will ich denn ohne Umschweife ans Werk gehen – was ich heute nicht erledigen kann, einem andern Tag überlassend.
Zunächst ein Bekenntnis, das mich sofort mit dem Leser in ein wahrhaftiges Verhältnis setzen wird: Ich glaube nicht an die Unschuld des französischen Hauptmanns Dreyfus.
Man wird jetzt auch begreifen, warum ich vor dem Ende des Processes in Rennes so zurückhaltend war. Kein anständiger Mensch wird gegen einen Angeklagten, an dessen Schuld gezweifelt wird, Zeugnis ablegen, wenn er nicht dazu gezwungen ist. Und dem Gesindel, das in Frankreich und außerhalb Frankreichs nach der Verurtheilung »des Juden« lechzte, wollte ich keinen Triumph bereiten. Nicht dass ich damit sagen wollte, auf der andern Seite sei bloß reines, sauberes Volk gewesen. Es roch zum Theil sehr stark nach Panama, und der Socialistenhetzer Trarieux, der manchen gewiss unschuldigen Arbeiter ins Gefängnis gebracht hat, und der Socialistenschlächter Gallifet, der in der blutigen Maiwoche 1871, lächelnd, die Cigarrette im Munde, die Proletarier: Männer, Frauen und Kinder, dutzend- und hundertweise über den Haufen schießen ließ, um sich und seinen Cocotten – den liederlichen Weibsbildern, welche die Commune aus Paris zu den Versailler Ordnungshelden gejagt hatte – ein nervenreizendes Schauspiel zu geben – sie sind gewiss um kein Haar breit besser, als die Gesellschaft der Henry, Mercier und Consorten.
Was letztere betrifft, so muss ich von vornherein einen Umstand betonen, den die Führer der Dreyfus»Campagne« geflissentlich verdeckt haben, nämlich, dass der Process gegen Dreyfus ein Spionenprocess war, und dass in Spionenprocessen selbstverständlich Spione eine hervorragende Rolle spielen, wo nicht die Hauptrolle. Das Spionieren ist aber, wenn als Handwerk betrieben, eines der schmutzigsten Handwerke, die es gibt – und sogar Herr v. Puttkamer musste zugeben, dass ein Spion kein Gentleman sei. Er dachte nur an politische Spione; die militärischen sind indes von der gleichen moralischen Qualität. Ein großes Unrecht war es von Anfang an, dass das Spionendepartement des französischen Generalstabs mit dem gesammten Generalstab, ja mit der gesammten Armeeorganisation zusammengeworfen ward, was ungefähr ebenso gerecht ist, als wenn man das Gesindel des Tausch- Processes mit der preußischen Regierung, der Reichsregierung und überhaupt den deutschen Regierungskreisen für eins erklären wollte.
Dass diese tolle Ungerechtigkeit nicht ganz ohne Absicht war, erhellt daraus, dass die Führer der »Campagne«, wie das tausendmal ausgesprochen und hunderttausendmal angedeutet ward, von der Voraussetzung ausgiengen, der französische Generalstab habe wissentlich einen Schuldlosen verurtheilt. Eine geradezu monströse Abgeschmacktheit. Das Interesse des Generalstabs konnte doch bloß sein, den Schuldigen zu finden und zu packen. Und dass aus bloßem Judenhass der Jude Dreyfus auf die Teufelsinsel geschickt worden sei, ist eine Annahme, die jeder Psychologie und allem gesunden Menschenverstand ins Gesicht schlägt. Die antisemitische Bewegung war in Frankreich 1894 sehr schwach – ihre Träger galten als lächerliche Personen. Seitdem ist sie etwas stärker geworden, aber wesentlich infolge der »Campagne«; und auch jetzt ist sie nicht annähernd so stark, wie in Deutschland, obgleich – nach französischer Art – weit mehr Spectakel gemacht wird. Mich wird niemand der Sympathie für die Antisemiten verdächtig halten, allein eine so hohe Meinung ich von dem Judenhass der Herren Liebermann v. Sonnenberg, Böckel, Ahlwardt und Genossen auch haben mag, das würde ich ihnen doch nie zutrauen, dass sie, auf der Richterbank sitzend, einen Juden bloß deshalb, weil er ein Jude ist, eines todeswürdigen Verbrechens schuldig erklären und auf die »trockene Guillotine« schicken würden.
Ich weiß, es gibt »patriotische« Männer, die da vermuthen, als »vaterlandsloser Geselle« schwärme ich für die französischen Officiere, Generale und Kriegsminister. Ach nein. Das ist eine Menschenart, die ich in Frankreich so wenig liebe, wie in Deutschland. Wenn mir aber jemand erzählte: »Auf Drängen des Kriegsministers v. Goßler hat ein preußisches Kriegsgericht einen deutschen Officier jüdischer Nationalität, wissend, dass er unschuldig ist, der Spionage für Frankreich schuldig befunden, bloß weil er ein Jude« – so würde ich den Erzähler für verrückt halten. Und die Urheber der »Campagne«, die so viel darauf pochen, dass bei dem reichen Dreyfus kein »Motiv« vorhanden gewesen sei – als ob Geld das einzige »Motiv« zum Verbrechen wäre! – möchte ich doch daran erinnern, dass die Annahme, sieben französische Officiere unter Anführung des Kriegsministers und unter Mitwirkung des ganzen Generalstabs hätten einen kriegsrichterlichen Ritualmord verübt, – unendlich widersinniger und widernatürlicher ist, als die Annahme, ein reicher Mann könne das Verbrechen der Spionage für das Ausland begangen haben. Von wie vielen reichen und sogar hochgestellten Landesverräthern gibt die Geschichte uns Kunde!
Also ich glaube nicht an die Unschuld des Dreyfus. Und ich will nun sagen, wie es kam, dass ich an sie nicht glaube.
Dem Process des Jahres 1894 hatte ich nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Unter der Herrschaft des »bewaffneten Friedens« blüht die internationale Spionage, namentlich zwischen Deutschland und Frankreich so üppig, dass Spionenfänge und Spionenprocesse zu den Alltäglichkeiten, wenn auch nicht zu den Annehmlichkeiten des Lebens gehören. Erst im Herbst 1897, als die »Campagne« durch die bekannte Lazarus-Schrift eröffnet ward, fieng ich an, mich mit der Sache ernst zu beschäftigen. Die Schrift hatte für mich nichts Ueberzeugendes. Wohl aber trieb sie mich vor die Frage: Ist es wahrscheinlich, ist es denkbar, dass ein französischer Officier, der eine einflussreiche Familie und Verwandtschaft hat, wegen eines Landesverraths, den er nicht begangen hat, verurtheilt und fünf Jahre lang eingesperrt werden kann? Ist es wahrscheinlich, ist es denkbar, dass die Regierung, für welche der Verrath angeblich oder vermuthlich begangen wurde, es dulden kann, dass ein Unschuldiger für diesen Verrath fünf Jahre lang gefangen und so behandelt wird, wie Dreyfus behandelt worden ist?
Auf diese Frage musste ich mit Nein! antworten. Ich kenne etwas von Spionenprocessen; ich habe selbst in Spionensachen mehr als einmal als Richter functioniert, freilich nicht als staatlicher, staatsamtlicher Richter. Ich weiß, dass in solchen Processen meist nur ein Indicienbeweis erbracht werden kann, die Gefahr eines Justizirrthums folglich sehr nahe liegt. Ich weiß aber auch, dass in Bezug auf die Militärspionage der Regierungen eine Art ungeschriebenen Völkerrechts besteht, dessen erster Paragraph lautet: Es wird spioniert auf Mord und Brand, allein keine Regierung hat direct oder indirect etwas mit Spionen zu thun. Und nicht nur keine Regierung, sondern auch kein Organ der Regierung.
Wird in der Tasche eines ertappten Spions der eigenhändige Brief eines ausländischen Generals oder Ministers gefunden – der Finder drückt (von Friedenszeiten ist die Rede) die Augen zu, und die »hereingefallene« Regierung erklärt, wenn das Missgeschick ruchbar wird, kühn und stolz unter dem Lächeln der Auguren, dass weder sie noch ihre Organe direct oder indirect mit dem Spion etwas zu thun haben.
Diese Praxis, wie gesagt, ist international. International ist aber auch eine andere Bestimmung dieses ungeschriebenen Völkerrechts, nämlich, dass ein unschuldig der Spionage Angeklagter sofort entlassen wird, wenn die Regierung, für welche der Verrath begangen worden ist, in nichtamtlicher Form das Wort abgibt, dass der Betreffende, so weit sie in Frage kommt, unschuldig ist.
Im Falle des Hauptmanns Dreyfus ist ein solches nichtamtliches Wort nicht abgegeben worden, – sonst hätte man ihn nicht für fünf Jahre auf die Teufelsinsel geschickt. So fand ich mich zu dem Schlusse gedrängt, dass Dreyfus nicht unschuldig sei. Indes dieser Schluss genügte mir nicht und ich verlegte mich fleißig auf das Studium der »Affaire«. Die deutsche Justiz kam mir zu Hilfe: im November 1897 musste ich eine viermonatliche Gefängnisstrafe antreten, und nun hatte ich die nöthige Muße. Der Zola- Process fiel in meine Strafzeit, und da ich die Erlaubnis hatte, den ‚Temps‘ zu lesen, der alles Material zu Gunsten des Dreyfus mit peinlicher Sorgfalt sammelte und den stenographischen Bericht des Zola-Processes brachte, so gelangte ich in den Besitz des Materials der »Affaire« und gewann eine ziemlich feste Grundlage des Urtheils. Im Gefängnis liest man genau. Außer dem ‚Temps‘ durfte ich noch die ‚Kreuzzeitung‘ und die ‚Vossische Zeitung‘ lesen. So konnte ich den Stand der Affaire in Frankreich und ihre Behandlung in Deutschland – überhaupt im Auslande – beobachten. Hier fiel mir nun zunächst auf, dass die deutsche Presse von Paris aus durchaus falsch unterrichtet wurde. Was z.B. die deutschen Zeitungen über den Zola-Process schrieben, in dem der Hauptheld eine recht lächerliche Rolle gespielt hat, war in groteskem Widerspruch mit den Thatsachen. Und mit der angeblichen Parteilichkeit der französischen Regierung gegen Dreyfus konnte es auch nicht so schlimm sein, denn das Regierungsblatt, der ‚Temps‘, war entschieden für Dreyfus. Dann berührte mich sehr unangenehm das blöde Geschimpfe auf Frankreich, die Franzosen und alles Französische. Wozu dieser Appel an den gemeinsten Chauvinismus? Und was konnte dieses Fischmarktgeschimpfe der Sache des Dreyfus nützen? War es überhaupt nicht geradezu widersinnig, die »Campagne« für einen wegen Landesverraths Verurtheilten in dem Lande zu führen, an das er sein Vaterland verrathen haben sollte? Das war ja der reinste Aberwitz. Ich kam zu der Ueberzeugung, dass die Sache des Dreyfus in schlechten Händen war. Und meine Zweifel an seiner Unschuld wurden wesentlich gestärkt. Gemindert konnten sie nicht werden durch die inzwischen bekannt gewordenen Erklärungen des deutschen Gesandten in Paris aus dem Jahre 1894 und durch die neuen Erklärungen des Staatssecretärs Bülow. Es waren das die conventionellen Formeln, die einfach die conventionelle Lüge aussprachen, dass eine Regierung »weder direct noch indirect« mit Spionen etwas zu thun hat.
So wenig ich die Führung der »Revisions-Campagne« billigte, so war ich doch für die Revision – wie ich in jedem Falle, wo sich ein Zweifel an der Schuld eines Verurtheilten erhebt, für die Revision einzutreten mich verpflichtet halte.
Das Geschimpfe auf die »Fälscherbande«, »Verbrecher«, »verkommenen Franzosen«, das an die wüstesten Orgien des 1870/71er Kriegsfanatismus erinnerte, verursachte mir aber einen so großen Ekel, dass ich nach meiner Wiederfreilassung im Gespräche mit Befürwortern der Dreyfus-Sache unter vier Augen äußerte, die Leiter der »Campagne« verdienten Stockschläge für den Schaden, den sie ihrer eigenen Sache zufügten, und für den Vorschub, den sie den Antisemiten und Reactionären aller Art leisteten. Insbesondere die deutsche Presse hat arg gesündigt. Und liberale oder gar demokratische Zeitungen haben eine »Franzosenfresserei« insceniert, die unsere verbohrtesten Junker und Polizeipatrioten mit Neid erfüllen musste und nur in deren Antisemitismus eine Begrenzung fand. Wurde die »Franzosenfresserei« doch dem »Juden Dreyfus« zu Liebe und Ehren betrieben. Aber von der »Campagne« ein andermal. Für heute nur noch kurz über das Ende der »Campagne«, der trotz allem Geschreie eine zweite nicht folgen wird – wenigstens gewiss nicht im gleichen Stil und mit gleichen Waffen.
Die Revision wurde erreicht – ein Resultat, das jedoch nicht sowohl der »Campagne«, als der Entlarvung des Fälschers Henry durch die bête noire der Revisionisten, den Kriegsminister Cavaignac zu verdanken ist. Der neue Process kam und – Dreyfus ist zum zweitenmale verurtheilt.
Natürlich heißt es jetzt: ein neuer Justizmord sei begangen. Ist das so sicher? Mit den Einzelheiten des Processes will ich mich nicht beschäftigen. Ich will nur feststellen, dass die Haltung des Angeklagten auch auf seine Vertheidiger einen äußerst ungünstigen Eindruck gemacht hat – ich verweise auf die Berichte der ‚Frankfurter Zeitung‘, die gewiss nicht der Parteilichkeit gegen Dreyfus angeklagt werden kann. Ich stelle weiter fest, dass die Indicienbeweise gegen Dreyfus bei weitem stärker und wuchtiger waren, als allgemein angenommen worden war. Ich stelle ferner fest, dass die Vertheidigung in den letzten Processtagen sich ihrer Schwäche so voll bewusst war, dass sie in letzter Stunde das ganze Vertheidigungssystem plötzlich änderte, was natürlich ebenso verhängnisvoll wirkte, wie eine plötzliche Aenderung des Schlachtplans mitten in der Schlacht.
Bemerken muss ich allerdings, dass die Schuld des Dreyfus nicht bewiesen wurde, – aber auch nicht seine Unschuld; wobei indes festzuhalten ist, dass es bei Spionenprocessen nur in den seltensten Fällen directe, positive Beweise gibt, weil diese meist in den Händen des Feindes sind.
»Aber der Feind – in diesem Falle die deutsche Regierung – hat ja die Unschuld des Dreyfus amtlich erklärt.«
So?
Am Morgen des Tags, wo das Urtheil in Rennes gefällt werden sollte, kam ein Freund – ich war gerade auf Reisen – zu mir gestürzt: »Dreyfus ist jetzt gerettet – die Reichsregierung hat seine Unschuld bezeugt!« Er reichte mir die ‚Frankfurter Zeitung‘ mit der bekannten Erklärung. Ich las diese, fand nur eine Wiederholung der früheren Erklärungen und sagte dem Freund: »Du irrst Dich! Das ist die Verurtheilung des Dreyfus!«
Und Dreyfus wurde verurtheilt. Ein Wort der deutschen Regierung hätte ihn gerettet, wenn sie ihn unschuldig wusste, und dieses Wort ist nicht gesprochen worden. Die conventionelle Formel deckte nur die deutsche Regierung, nicht Dreyfus. Und wie mag Hohenlohe und mag Bülow gelacht haben, als sie in den Zeitungen lasen, die Verurtheilung sei angesichts der Erklärung im ‚Reichsanzeiger‘ eine Insulte der deutschen Regierung, des Kaisers und des Reichs! Hätte man die Erklärung in Frankreich für etwas Anderes genommen als eine conventionelle Formel, so hätten die französischen Kriegsrichter und Behörden ihrem Verstand und Wissen ein sehr schlechtes Zeugnis ausgestellt.
Und hier ein kleines Erlebnis. Ein Reisender besteigt mit seiner Frau und einer Freundin derselben in Paris ein Coupé – Pardon – Pardon! Verzeihung – ein Abtheil* erster Classe des Nachtschnellzugs nach Belgien und Deutschland. Es war vor x Jahren, nicht gar zu lang her. Im Augenblick, wo der Zug sich in Bewegung setzt, springt ein hochgewachsener Herr in das Abtheil und wirft sich, nach flüchtigem Gruß, in die vierte Ecke. Der Mann ist offenbar sehr erregt, bei der Hast seines Kommens nichts Auffallendes.
Der Fremde sprach kein Wort und hielt die Mütze über das halbe Gesicht herabgezogen, so dass man hätte meinen können, er schlafe, wenn nicht nervöse Bewegungen gegen die Annahme gesprochen hätten.
Als die erste belgische Station ausgerufen ward, schnellte der Fremde wie ein Gummiball empor, riss das Fenster auf und rief mit zusammengepresster Stimme: »Sind wir in Belgien?« »Ja!« Dieses »Ja!« wirkte wie ein elektrischer Schlag. Der Fremde warf die Mütze ab, sprang mit dem Ruf: »Gott sei Dank! Jetzt bin ich sie los!« in die Luft, wurde verlegen und entschuldigte sich vor uns: »Ich bin ja unter Landsleuten! Französische Spione waren hinter mir her, ich dachte nicht, dass ich ihnen entschlüpfen würde! Und jetzt bin ich in Sicherheit!«
Und er erzählte mir – mit einer Offenherzigkeit, die sich theils aus der erlittenen Seelenangst, theils aus dem Glauben erklärte, mit Leuten zusammen zu sein, auf deren Sympathie er rechnen könne. (Seine Vertrauensseligkeit ist auch nicht missbraucht worden.) Genug – er war als Freiwilliger nach Paris gegangen, um gewisse militärische »Geheimnisse« näher zu erforschen, und war französischen »Collegen« oder »Kameraden«, die ähnliche Dienste gegen Deutschland leisteten, verdächtig geworden. In der Beichte fiel mir besonders auf, was er über die letzte Unterredung mit einem – Vorgesetzten in Deutschland mittheilte. Er war gewarnt worden: »Was Sie thun, thun Sie auf eigene Gefahr. Wenn Sie gefasst werden – wir haben weder direct noch indirect etwas mit Ihnen zu thun.« – – – – – – – – – – – – – – – –
Nun – die französische Regierung hat Dreyfus begnadigt. Das war nicht logisch, aber vernünftig. Und wer von der großen »Campagne« her noch etlichen Vorrath von Mitleid und Entrüstung hat, der verwende ihn für die Wiederaufnahme des Essener Meineidsprocesses, in dem Schröder wegen eines Meineids verurtheilt ward, der unmöglich vorhanden sein konnte, oder für den unglücklichen Ziethen, der zweifellos unschuldig ist und seit 15 – ich schreibe: fünfzehn – Jahren im Zuchthaus sitzt, wo der Aufenthalt noch weit weit weniger angenehm ist, als auf der Teufelsinsel.
Berlin, den 25. September 1899.
W. Liebknecht.

Fußnoten

* In Deutschland, wo jetzt ein patriotischer Feldzug gegen Fremdwörter geführt wird – allerdings mit wenig Geschmack und Sprachkenntnis –, ist das Wort »Coupé« geächtet und muss »Abtheil« gesagt werden. W.L.

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=