Re: Lesefrüchte

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hal-croves
אור

Registriert seit: 05.09.2012

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[…]

Das Blatt hat durch mehr als dreißig Jahre die Vorsehung der Inneren Stadt gespielt, nicht aus Nummern setzte sich sein Dasein zusammen, sondern aus Offenbarungen, und es gibt nach alttestamentarischer Vorstellung keine irdische Möglichkeit, in directe Beziehungen mit den Herausgebern der »Neuen Freien Presse« zu treten, die, wie man sich in scheuer Bewunderung erzählt, selbst mit den Bankdirectoren nur durch Mittelsmänner verkehren sollen. Junge Literaten sind auf ein »Zeichen« angewiesen, und Engagements scheinen ausschließlich durch Träume oder Visionen abgeschlossen zu werden. »Alles in der Natur vollzieht sich nach Maßgabe des dafür in der ‚Neuen Freien Presse‘ verfügbaren Raumes« lautet ein alter physikalischer Grundsatz, und der Begriff der Größe alles Irdischen wird erst durch Messungen an dem Größenwahn der Redacteure jenes Blattes festgestellt. Tritt einmal ein Ereignis ein, ohne dass die »Neue Freie Presse« etwas davon erfährt, dann ist dies immer von gewissen Unregelmäßigkeiten im Weltenraume begleitet, und man hat stets noch gefunden, dass gleichzeitig mit einer Blamage des Blattes irgendwo ein Komet oder Sternschnuppenfall beobachtet wurde. Gewöhnlich pflegt dann noch überdies Herr Benedikt auf das Ereignis, das ihm entgangen, sehr böse zu sein. Das Ende der Präsidenten und Minister der französischen Republik ist z.B. etwas, womit die »Neue Freie Presse« in der Regel Malheur hat. So lange sie leben, geht’s ja noch nothdürftig, sind sie aber einmal todt, dann ist es aus mit der Gunst, und nicht der Correspondent, der die Gelegenheit versäumte, sondern die französische Republik hat sich’s mit der »Neuen Freien Presse« verdorben. Herr Herzl erwies erst, dass er zu Höherem tauge, als er die Ermordung Carnots verschlief, und Herr Berthold Frischauer war es, dem Felix Faure zu früh gestorben ist. Gambetta ist wohl der einzige, mit dem die Sache noch halbwegs glückte; er hatte aber vorher, anlässlich seiner Anwesenheit in Wien, die Redaction – noch heute zehrt sie von dieser Ehre – besucht und den Herren versprochen, gegebenenfalls rechtzeitig ihren Pariser Vertreter zu wecken. […]

(Die Fackel: Nr. 5, S. 8-9)

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=