Startseite › Foren › Kulturgut › Print-Pop, Musikbücher und andere Literatur sowie Zeitschriften › Die Drucksachen › Lesefrüchte › Re: Lesefrüchte
„Tausendmal habe ich die sowjetische Hymne im Lager gehört, die alte und die neue. Mein Leben lang verbinden sie sich für mich mit der Erinnerung an Reihen von reglosen auf Pritschen ausgestreckten Leibern oder an den Anblick der Brigaden, die im Morgengrauen zur Wache strömten. »Wacht auf, Verdammte dieser Erde, die stets man noch zum Hungern zwingt«, das verstanden wir ganz wörtlich als Signal zum Aufstehen … Fünf Jahre später war ich mit einem Kameraden aus der Lagerzeit auf einer Versammlung in Tel Aviv, wo zum Schluss die Internationale gesungen wurde. Als die ersten Töne erklangen, sah ich zu ihm hinüber und merkte, dass ihm nicht gut war. Sein Gesicht war ganz bleich, sein Blick wanderte unruhig hin und her … Offenbar hatte er das Gefühl, wieder in der alten Mausefalle gelandet zu sein. Er drehte sich um und versuchte unbemerkt zum Ausgang zu gelangen. Aber das gelang ihm nicht. Mehrere junge Männer stellten sich ihm in den Weg und zwangen ihn, die Internationale bis zum Ende zu hören. Er schloss die Augen und beruhigte sich sofort. Auf der Straße fragte ich ihn: »Wohin wolltest du denn auf einmal?« Er antwortete: »Weißt du, in dem Moment, als ich zum Zuhören gezwungen wurde, war ich plötzlich wieder im gewohnten alten Lagerzustand. Ich schloss die Augen und es kam mir vor, als stünden neben mir noch zweihundert Millionen Sowjetbürger. So ist es normal, so ist es richtig: Die Internationale hört man unter Zwang … aber anders werde ich sie nie mehr hören können.«“
(aus: Julius Margolin, Reise in das Land der Lager, S. 408)
--
"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=