Re: Lesefrüchte

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אור

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Aus der Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 20.10.2013

EXERZITIEN
Leben ohne Licht
VON HANS CONRAD ZANDER

Meine atheistische Schwester und mein agnostischer Bruder werden beide beim Thema Religion ganz schnell ironisch.
—Ob ich denn nicht merke, dass der Glaube den Menschen keinen Nutzen bringt, es sei denn, natürlich, den illusorischen Nutzen der Vertröstung? Aber wirklichen Nutzen? Der Gegenbeweis sei doch erdrückend. Damals im 13. Jahrhundert, zur Zeit des heiligen Franziskus, als das Christentum in Europa blühte wie nie zuvor und nie danach, sei der Mensch bei uns im Schnitt etwa zwanzig Jahre alt geworden. Heute dagegen habe er die beste Hoffnung, achtzig zu werden. „Alt und lebenssatt“ zu sterben, sei aber auch nach der Bibel des Menschen höchstes Gut. Das uns dies heute geschenkt ist, sei aber gerade nicht der Religion zu verdanken, sondern offenkundig einer Wissenschaft, die sich aus der Bevormundung durch die Religion befreit hat. Soweit meine atheistische Schwester und mein agnostischer Bruder. Was halte ich ihnen entgegen? Die historischen Fakten stimmen, gewiss. Aber der ideologische Schluss, den sie aus den Fakten ziehen, ist nicht nur vorschnell, sondern auch wissenschaftlich zweifelhaft. Der stärkste Zweifel kommt mir gerade aus jener Wissenschaft, der meine ungläubigen Geschwister besonders gläubig vertrauen. Das ist die Biologie.
—In den Karsthöhlen des Balkan haben Biologen ein kurioses Tier erforscht. Das ist der Grottenolm. Eigentlich war er ein Salamander, ein Schwanzlurch jedenfalls. Diesem Salamander ist etwas passiert. Tief unten in der lichtlosen Welt unterirdischer Karstgrotten hat er das Augenlicht verloren. Gerade deshalb gilt er den Biologen als Muster erfolgreicher Mutation. Er kann jetzt umso besser riechen und hören. Um im Wasser die Richtung zu behalten, entwickelte er einen eigentlichen Magnetsinn. So gut hat sich der Grottenolm der Finsternis angepasst, dass er jetzt viel länger lebt. Zwanzig Jahre nur lebte er einst oben im Licht der Welt als Salamander. Gut achtzig Jahre lebt er jetzt in der Finsternis der Unterwelt als Grottenolm.
—Wie? Was? Statt zwanzig achtzig Jahre? Müssten da bei euch, meine atheistische Schwester, mein agnostischer Bruder, nicht alle Alarmglocken des Unglaubens schrillen? Denn was ist das für ein Leben: Achtzig Jahre ohne Licht! Inbegriff der Gottheit ist ja das Licht. Kulte des Lichts sind alle Religionen. „Gott sprach: Es werde Licht. Und es ward Licht“, so beginnt das Alte Testament. „Gott von Gott, Licht vom Licht“, heißt es am Anfang des Johannes-Evangeliums. Das Schönste, was ein Geschöpf erleben kann, ist das Licht. Es ist göttlich schön.
—Achtzig statt zwanzig Jahre? Lieber noch mehr, lieber hundert Jahre! Aber um einen Preis nicht. Nicht um den Preis des Abstiegs in die finstere Lichtlosigkeit. Ihr Grottenolme der Moderne, kommt, steigt empor ans Licht! Und habt nicht zu viel Angst um eure achtzig Jährlein! Abraham, der Vater aller Gläubigen, wurde, glaubt es nur, 175 Jahre alt (I. Mosis 25, Vers 7).

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"Edle, freie Unbefangenheit bei Allem. ... Alle übrigen Vollkommenheiten sind der Schmuck unsrer Natur; sie aber ist der der Vollkommenheiten selbst. ... Sie ist mehr als Leichtigkeit, sie geht bis zur Kühnheit: sie setzt Ungezwungenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit todt, alle Grazie ungeschickt: sie ist überschwenglich, geht über Tapferkeit, über Klugheit, über Vorsicht, ja über Majestät." (Baltasar Gracián) =>mehr<=