Re: il n’y a pas de hors-texte – Text und Interpretation

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gypsy tail wind
„Jede Notation ist schon Transkription eines abstrakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt (…) Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transkription, und auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebärden – niemals das Original aus der Welt schaffen. Denn das musikalische Kunstwerk besteht vor seinem Ertönen und nachdem es verklungen ist, ganz und unversehrt da. Es ist zugleich in und ausser der Zeit.“

~ Ferruccio Busoni

Dieser hier ist ein wunderbarer Undercover-Thread … aber wo sind die Stimmen? Busoni, den ich fast nur mit dem „Entwurf“ kenne, sein großes Werk nur in Wenigem, zu dem ich aber immer wieder greife – die Chaconne-Transkription sagt mir allerdings gar nichts oder immer weniger -, Busoni sei mir also einmal Anlass, das abendliche Hören hier hinzustellen. Denn ein Giotto muss in jedem Haus sein!

Ich höre also gerade nichts Neues unter der Sonne, mal wieder das WTK mit Gulda:

Und da fällt mir so auf und deshalb stopfe ich es in diesen Thread und nicht unter „Ich höre gerade …“: Ich möchte diese materielle Realisierung des Abstrakten niemals missen, ich kann auf viele verzichten, aber nicht auf diese Einspielung, daneben noch die völlig andere von Gould – und dann doch nicht so anders, weil sie beide an die Grenzen gehen, diejenigen, die die Noten überschreiten ins Abstrakte, obwohl es hörbar bleibt, sie, die Noten, die Grenzen. Also hin zum Imaginären, das überall lauert, überall sagt: „Es könnte auch anders sein.“ Das sind dann nicht mehr die eher geringfügigen Interpretationsvergleiche, bei denen man sich zeitlebens ertappt. Dieses Materielle hier – und ich rede nicht vom Mammon – geht aber in etwas über, verschmilzt mit ihm, was eine Art zwingender, überzeugter und zugleich lebendig-müder Vorschlag ist, der mit einer Handbewegung zwar vom Tisch zu fegen sein mag, aber dann gleichzeitig damit das abstrakte Imaginäre, für das Busoni den Fehdehandschuh reichen wollte. Aber, das ist eine theoretische Idee, zumal zu dieser Zeit, kurz nach um 1900, die Verwirklichung je anders.

Der Text ist da – es gibt hundert Bedürfnisse, ihn einheitlich zu lesen, um ihn zu verstehen, ich meine die Noten, nicht den „Entwurf“. Es gibt hundert Bedürfnisse, ihn verschieden zu lesen, um zumindest im Negativ der Unterlassungen sein Imaginäres zu hören. Und dann spazieren Leute herein wie Gulda und sagen – par exemple -, doch, möglich ist die Illusion schon, höre doch hin, das ist handgeprüft.

Aber das hängt von den eigenen Händen ab, man sollte sie vielleicht mehr schätzen, wie sie auch denken können, selbst wenn sie gelähmt im Schoß liegen oder auf den Beinen zittern. Das fällt mir also ein, nach dem Stupser vor Tagen zu Denis de Rougement.

Das Imaginäre hebt Busonis „Problem“ der Trennung zwischen abstraktem Gedanken und reellem Spiel auf. Gut, es hat eigene Schlingen, die größte ist die Einbildung, mit der es nichts zu tun hat.

Und dann zu allem noch das „Schöpferische“, der Anlass zu vulkanischen Irritationen wie denen Busonis. Gleich, mögen sie alle, und vor allem heute noch schreiben – und warten. Und genau das ist ein Zusammenhang, das andere Materielle und die Entlohnung der Entäußerung, die mich sehr an Godard denken lässt.

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