Re: Peter Brötzmann

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gypsy-tail-wind
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FefAbsolut nicht. Jeder hört sofort, dass Taylor ein Virtuose ist. Allerdings ist das natürlich keine feine Musik, die einen glücklich macht. Und ich hab masochistische Kunst-Ansprüche ziemlich abgelegt.

Gerade las ich: Frank Lowe (von dem hier im Forum ja die Rede war) probte „wie wild“ mit dem Revolutionary Ensemble und war „sehr mit sich zufrieden“, als der in New Orleans aufgewachsene Lester Bowie dazu kam und sagte: „Spielt ihr denn überhaupt keinen Blues mehr?“ Dann setzte er sich mit ihnen zusammen und sie spielten (in Lowes Worten) „einfach den Blues, bis ich weinen musste“. Das finde ich schön, den Rest kannst du vergessen!

Jetzt mach mal ’n Punkt. Blues ist keine europäische Tradition, Du kannst nicht allen Ernstes verlangen, europäische Jazzmusiker müssten Blues spielen können? Natürlich gibt’s die Möglichkeit, sich in den Blues einzufühlen, aber wenn die europäischen Hardbopper (von denen ich ja viele sehr gerne mag) Blues spielen, dann ist das eben doch selten mehr denn Epigonentum.

Ich weiss, Du sagst: „jetzt kommt wieder die Sche*sse mit der Folklore“, aber genau das ist doch der Punkt: Jazz ist in all seinen Spielformen stets auch sozialgeschichtlich geprägte Musik (jede Musik ist das, jede Kunst, jeder Gedanke überhaupt). Die Musik, die Ende der 60er in Europa entstanden ist – Brötzmann, Bennink, Mengelberg, Schlippenbach, Evan Parker, Barry Guy etc. etc. – ist genuiner Ausdruck ihrer Zeit und das beste davon ist bis heute nicht nur als Dokument grossartig sondern als gültige künstlerische Ausdrucksform. Damit will ich nicht mal ausschliessen, dass man Brötzmann heutzutage langweilig und völlig passé findet.

Die Sache ist einfach die, dass ich was Live-Musik betrifft fast immer auf der Suche bin nach irgendwelchen Sachen, die mich berühren, weil sie etwas Eigenes zu finden suchen, Musik die zuckt, Musik die lebt, Musik die mich im Innersten bewegt. Das kann die introvertierte Mary Halvorson mit ihrem Trio sein, der leicht akademische Taylor Ho Bynum, der balkanisch angehauchte Jazz von Colin Vallon, oder es können eben auch das Circulasione Totale Orchestra oder Brötzmanns Chicago Tentet sein. Wenn Du mit offenen Ohren in ein Konzert der letztgenannten Gruppe gehen würdest (ich weiss, Du bist ja nicht meschugge – schön für Dich), würdest Du rasch merken, dass bei aller verdammten Lautstärke und der schieren Kraft, die Dich buchstäblich in den Sessel drückt, Brötzmanns Musik enorm vielschichtig ist, dass die Klangwelt, die er schafft, einen grossen Variantenreichtum aufweist.

Und sonst könntest Du es mal mit „Brötzmann for Lovers“ ausprobieren, also einem seiner Solo-Alben oder -Konzerte. Das würde hoffentlich auch zum Überdenken der bedenklichen Aussagen hinsichtlich seines technischen Könnens führen. Diesbezüglich disqualifizierst Du Dich mit Deinen pauschalen Aussagen bloss selber.

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