Re: Stan Getz

#8074077  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 67,066

Getz verbrachte ein paar Monate in Haft und erst im August nahm er wieder auf – die oben erwähnte zweite Session mit Chet Baker, von der ein Stück erstmals auf „Chet Baker – The Pacific Jazz Years“ erschienen war, alle drei zusammen auf der 1997er Doppel-CD „Chet Baker & Stan Getz – West Coast Live“ von Blue Note zu hören sind.

Die erste Aufnahme für Norman Granz entstand am 8. November vor Publikum. Getz‘ wiedervereinigtes Quintett mit Bob Brookmeyer und John Williams sowie dem neuen Bassisten Bill Anthony sowie Art Mardigan am Schlagzeug wurde im Shrine Auditorium mitgeschnitten. Die Doppel-LP enthielt auf der vierten Seite zwei Studio-Einspielungen vom folgenden Tag, „We’ll Be Together Again“ und „Feather Merchant“.

Im Shrine trat Getz‘ Band neben dem Dave Brubeck Quartet, dem Gerry Mulligan Quartet (auch mit Brookmeyer? Oder wer war da im November 1954 der zweite Bläser?) sowie der Big Band von Duke Ellington auf. Die Stimmung ist gut, Getz und Brookmeyer sind in Form, die Rhythmusgruppe ist allerdings etwas weniger erdig, auch wenn John Williams weiterhin überzeugt. Nach einem bewegten „Flamingo“ folgt die Ballade „Lover Man“, in der Brookmeyer zunächst hinter Getz liegende Linien bläst, dann wechseln sie die Rollen. Die erste Seite endet mit Johnny Mandels „Pernod“ (mit einer kontrapunktischen Präsentation, die Mulligan alle Ehre macht), auf der zweiten folgt Al Cohns „Tasty Pudding“ und dann geht es mit „I’ll Remember April“ zurück ins Standard-Territorium. Auf Seite 3 umklammern der Standard „Polka Dots and Moonbeams“ sowie Ellingtons „It Don’t Mean a Thing“ Brookmeyers „Open Country“. Manche Stücke klingen sehr gut, in „Open Country“ etwa ist Brookmeyers Sound schön zu hören, anderswo allerdings ist die Aufnahme etwas dumpf, insgesamt ist die Qualität leider etwas wechselhaft – aber die Musik macht das locker wett!

Am nächsten Tag ging Granz mit der Band – Frank Isola sass wieder am Schlagzeug – in Los Angeles ins Studio und nahm sechs Stücke auf. Die beiden Standards „Give Me the Simple Life“ und „I’ll Remember April“ bildeten zusammen mit Brookmeyers „Oh Jane Snavely“ den Rest von Interpretations by the Stan Getz Quintet #3. Am gleichen Tag entstanden auch die beiden erwähnten Stücke, die am Ende des Live-Doppelalbums zu hören sind. Zudem wurde ein EP-Take von „We’ll Be Together Again“ und eine Studio-Version von „Flamingo“ eingespielt. Letztere ist im Hip-O-Set fälschlicherweise nicht zu hören, stattdessen findet sich da die Live-Version. Die Studio-Version erschien aber auf dem Album Stan Getz & The Cool Sounds – oben in Post #27 findet sich der Link zum MP3 der Studio-Version, die Hip-O-Select nach Einsehen ihres Fehlers zur Verfügung gestellt haben.

Die Musik ist eine Freude – in „Give Me the Simple Life“ spielen Getz und Brookmeyer tolle kontrapunktische Linien und auch Drummer Frank Isola greift etwas ins Geschehen ein. Beide Bläser sind in bester Spiellaune und steuern ein tolles Solo nach dem anderen bei.
Die unterschlagene Studio-Version von „Flamingo“ scheint dann wirklich der letzte Track der ersten Getz/Brookmeyer-Band gewesen zu sein – sehr schön!

Die folgenden Monate sollten wieder bessere sein. Getz wurde von der Leserschft von Down Beat zum besten Tenorsaxophonisten des Jahres 1954 gewählt und verbrachte den Jahreswechsel auf Tour mit Count Basie – er spielte neben seinem Idol Lester Young! Offizielle Aufnahmen sind auf Birdland All Stars Live at Carnegie Hall (Roulette 2CD, 1992 – über frühere Veröffentlichungen weiss ich nichts genaues) zu finden, zudem ist bei Jazz Classics Records die Doppel-CD The Stars of Birdland On Tour erschienen, auf der ein Konzert aus Topeka, Kansas, vom Februar 1955 zu hören ist. Neben der Basie Band mit den Gästen Lester Young und Stan Getz, sowie den Sängern Joe Williams (nur Topeka) und Billie Holiday (nur Carnegie Hall) sind auch Sarah Vaughan und in Topeka zudem die Gruppen von George Shearing und Eroll Garner zu hören.

Die Getz-Tracks auf der Carnegie Hall-CD stammen allerdings aus dem Birdland und wurden vermutlich am 16 Dezember 1954 aufgenommen – sie finden sich auch am Ende des Roost 3CD-Sets von Stan Getz (das ich nach wie vor für das eine, absolut essentielle Getz-Set halte).

Als die Truppe Washington, DC erreichte, lernte Getz dort Monica Silfverskiöld kennen – die hübsche junge Schwedin aus bestem Hause sollte zwei Jahre später seine zweite Frau werden. Er zog in der zweiten Hälfte der 50er Jahre für längere Zeit nach Skandinavien, auch in der Hoffnung, seine Drogensucht endlich kurieren zu können – schon Ende 1955 entstand denn auch das Album „Stan Getz in Stockholm“.

Im Januar 1955 ging die Band zum letzten Mal ins Studio – Bob Brookmeyer war allerdings endgültig mit Mulligan losgezogen. An seine Stelle hatte Getz den Trompeter Tony Fruscella geholt. Mit ihm enstanden gerade mal zwei Stücke, „Blue Bells“ und „Round Up Time“. Sie wurden ebenfalls auf Stan Getz & The Cool Sounds veröffentlicht, einem Album, das aus diversen Sessions zusammengestückelt wurde (und auch ein paar zuvor schon veröffentlichte Tracks enthielt… eine Compilation wohl für die Orthodoxen). Das Ziel des Albums – das die neue Verve 8200-Serie eröffnete – war es, Getz‘ Rolle als zentrale Figur des Cool Jazz zu betonen. Das gelang und die LP wurde zu einem der Bestseller von Verve. Das Cover bietet eye candy undd spielt auch mit dem Titel, wird das Model doch mit Wasser gekühlt, das aus einem überlaufenden Eimer herunterplätschert.

Hiermit sei „Stan Getz & The Cool Sounds“ empfohlen! Die Scheibe ist als ganzes sehr gut gemacht. Die Einzelteile sind: #1-4: West Coast Session mit Lou Levy, 55-08-19; #5: „Flamingo“; #6-7: Fruscella-Session, s.u.; #8-9: zwei der Tracks mit Jimmy Rowles, siehe letzter Post; #10: noch ein Track mit Brookmeyer von „The Artistry of“ – #1-4 finden sich im West Coast 3CD-Set, #6-10 im Hip-O-Set, #5 müsste dort auch sein, ist es aber nicht, der einzige Grund, die „Cool Sounds“ zu behalten, falls man sie nicht auch als Album/Compilation/werweisswas schätzt, wie das bei mir der Fall ist.
Bill Simons Liner Notes öffnen mit dem folgenden Abschnitt, bevor sie detailliert zu allen Tracks Auskunft geben:

During the first half-dozen years of the ’50’s, „cool“ jazz style was dominant. As opposed to the fast tempi, seering sounds and general freneticism of Bop, it seemed lazy, limpid, legato and, on the whole, introspective. Its exponents enjoyed smart show tunes, with their interesting harmonies and melodies, and thereby they established a new bond with sophisticates, many of whom could never „make it“ with the more ribald and raucous forms of jazz.
„Cool“ jazz is typified by the leading tenor saxophonist of this decade, Stan Getz. His unlimited technique, his beautiful soft-edged tone, his fertile musical mind and his personal, introspective approach to the idiom carry him far beyond most of his contemporaries, and even – in the minds of some – beyond his musical procreator, Lester Young himself. Stan has won every important jazz poll since 1950, and most by huge margins.

Dass jemand jemals Pres überflügelt ist natürlich gar nie möglich, nicht mal denkbar, das ist ja klar… ansonsten sind ein paar Aspekte an Simons Text interessant.
Zum ersten die Beobachtung, dass manche Cool-Jazzer in den „more ribald and raucous“ (ribald ist ein verdammt tolles Wort, muss ich endlich mal in meinen Aktiv-Wortschatz aufnehmen!) es nicht geschafft hätten. Das sagt er, obwohl seine Sätze insgesamt doch grosses Verständnis für den „Cool“ zeigen und man durchaus glauben kann, dass Simon ihn auch gerne mag. Natürlich hebt er Getz dann ab von der Masse – das der zweite Aspekt, den ich spannend finde: Getz ist auf jeden Fall eine Ausnahmeerscheinung als Musiker überhaupt und ebenso unter den Pres-Schülern. Er steht unter ihnen alleine da, ist anders, hat eine ganz klare eigene Spielweise entwickelt. Der dritte Punkt ergibt sich daraus: Getz hat jeden nur denkbaren Poll gewonnen – eine doch erstaunliche Sache für einen krassen Junkie, der immer mal wieder im Knast sass und sogar landesweit durch die Medien gezogen wurde. Was das betrifft gebührt Norman Granz wohl unendlich grosse Dankbarkeit – hätte er in den frühen 50ern nicht an Getz festgehalten, wäre er nicht hinter ihm gestanden – keine Ahnung, was mit Getz passiert wäre.
Eine weitere Beobachtung, die spannend ist – aber am Ende doch nicht so erstaunlich, wenn man die damalige Entwicklungsgeschwindigkeit des Jazz betrachtet: Simon macht 1956 (oder wann immer die Scheibe erstmals erschienen ist) die Beobachtung, Getz sei der „leading tenor saxophonist of the decade“. Kurz darauf brachen Coltrane und vor allem Rollins über die Jazz-Szene herab und ganz andere Töne dominierten lang bevor die Dekade zu Ende gegangen war. Rollins war 1956/57 ein Musiker, der an Ideenreichtum Getz ebenbürtig oder gar überlegen war, aber eine ganz andere, viel sperrigere Konzeption pflege, die zwar auch stark von Pres geprägt war, aber auch auf andere Quellen zurückgriff. Bei Coltrane dauerte die Entwicklung zur richtig grossen Stimme noch ein paar Jahre länger aber Ende der 50er schrie kein Hahn mehr nach Cool Jazz und nach Getz. Das wiederum heisst natürlich nicht, dass aus der Ecke nichts gutes mehr gekommen wäre – aber die Zeiten hatten sich eben doch gründlich geändert, das Pendel war quasi wieder von Weiss auf Schwarz zurückgeschwenkt – und blieb, um es mal sehr polemisch zu sagen, bis zum Ende des Jazz (man könnte z.B. das Datum von Miles‘ Rückzug nehmen) dort.

Getz nahm später 1955 noch eine Reihe von Sessions für Norman Granz auf. So wirkte er an den Aufnahmen für das Third Stream-Projekt „The Modern Jazz Society Presents a Concert of Contemporary Music“ mit, spielte im August mit „Hamp and Getz“ ein gutgelauntes Album mit Lionel Hampton ein. Mit derselben Rhythmusgruppe (Lou Levy, Leroy Vinnegar und Shelly Manne) und dem Trompete Conte Candoli entstanden ein paar Tage später die Aufnahmen für „West Coast Jazz“ – Granz bemühte sich darum, Getz geschickt auf dem Markt zu positionieren, „Cool“ und „West Coast“ wurden zunehmend zu Synonymen und Getz wurde als einer der wichtigen Exponenten betrachtet. In einer dritten Session im August wurden ohne Candoli dann die fehlenden Titel für die Fertigstellung von „Stan Getz & The Cool Sounds“ eingespielt. Getz wirkte zudem an der „Benny Goodman Story“ (Capitol) mit und endete das Jahr mit seinem Umzug nach Schweden – und auch da wurde sogleich ein neues Album für Granz produziert: „Stan Getz in Sweden“ mit der feinen lokalen Begleitgruppe Bengt Hallberg, Gunnar Johnson und Anders Burman.

Getz blieb auch in den folgenden Jahren sehr aktiv und nahm an vielen Verve-Sessions teil – All-Star-Aufnahmen wie „Sittin‘ In“ oder „Jazz Giants ’58“, Sideman-Gigs mit Herb Ellis oder Buddy Bregman, eine weitere Session mit Dizzy Gillespie (und Sonny Stitt) unter dem Titel „For Musicians Only“ (mehr dazu hier), sowie eigene Alben enstanden. Unter letzteren finden sich zwei weitere mit den West Coast Musikern (Stan Levey tritt an Mannes Stelle), eines mit Mose Allison (kenne ich leider noch nicht) und „Stan Getz with the Oscar Peterson Trio“. Ebenfalls nahm er mit Ella Fitzgerald und Gerry Mulligan auf (eins der Alben aus dessen Mulligan with… Reihe – für ein paar Stücke tauschten die beiden auch ihre Saxophone) und nahm Ende 1957 auch an einer längeren und recht dicht dokumentierten Jazz at the Philharmonic Tour in den USA teil.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #151: Neuheiten aus dem Archiv – 09.04., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba