Re: Jazz: Fragen und Empfehlungen

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vorgarten

Registriert seit: 07.10.2007

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gypsy tail windA propos junge Jazzer: ich hab mir vor ein paar Tagen eine CD von Danny Grissett gekauft, auf der Ambrose Akinmusire zu hören ist. Hab sie einmal gespielt, klang soweit gut, braucht aber noch etwas mehr Aufmerksamkeit… seine neue(re) Blue Note will ich mir auf jeden Fall mal anhören.

die wiederum ist mir unbekannt. wenn ich mal zeit habe, schreibe ich was zu akinmusire im neuerscheinungen-thread (da gäbe es sowieso so einiges…). meine erste euphorie hat sich aber wieder etwas beruhigt.

nochmal ganz subjektiv zur marsalis-debatte (die – ich konnte es kaum glauben – immer noch, auch über ein 11 jahre altes interview, sprengstoff zu beinhalten scheint):

ganz persönlich suche ich im jazz (generell in der kunst) nach echos und reaktionen auf etwas, was mich auch sonst gerade umtreibt. also eigentlich irgendeine form der auseinandersetzung mit meiner „zeit“ und „lebensrealität“. das ist natürlich sehr ausschnittshaft (postmodern gedacht beschäftigt sich ja jeder mit einer „anderen zeit“, nimmt aktuelle phänomene auch nur subjektiv, vertreut, eben selektiv wahr) und könnte auch heißen, dass man sich ausschließlich mit charlie parker beschäftigt, weil einem das gerade „nah“ ist.
mir ist aber wichtig, dass sich musik in echtzeit mit ihrer zeit beschäftigt, das ist für mich auch die idee der improvisation – impulse aufnehmen und wieder umsetzen oder beantworten. und da habe ich ein problem mit historischem jazz, vor allem aber mit aktuellem jazz, der repertoirepflege sein will.

so gerne ich eine 1963er aufnahme von jackie mclean höre, ihre schärfe, ihren swing, ihren mut bewundere – ich kann nicht wirklich eruieren, aus welchem geist, in welcher situation, in welchen kontexten sie entstanden ist. viele von euch recherchieren zu einzelnen aufnahmen hier die interessantesten dinge, die manchmal nur ganz peripher mit der eigentlichen musik zu tun haben, aber bei der rekontruktion, wie diese musik überhaupt entstanden ist, sehr helfen. deshalb lese ich das hier mit großem vergnügen, obwohl der retro-horizont hier im forum sehr dominant ist. ich finde so ganz allmählich zugang zu hardbop-aufnahmen und sogar zu ellington und charlie parker, aber das eher abstrakt, theoretisch, inner-musikalisch, ohne wirkliches gefühl für die entstehungszeit

aber mich interessieren aktuelle positionen viel mehr, auch wenn der jazz aus vielen gründen gerade kleine blütezeit erlebt. ich mag es auch, musiker zeitgenossenschaftlich zu begleiten, auch wenn mir die eine oder andere aufnahme nicht gefällt.

ganz subjektiv würde ich in punkto relevanz musiker wie steve coleman und david ware prototypisch als musiker nennen, die sich wirklich ihrer zeit stellen. und deren beiträge nicht mit charlie parker verglichen, aber in ihrer bedeutung nicht unterschätzt werden sollten.

coleman setzt einer hochkomplexen welt eine hochkomplexes musikalische struktur entgegen, in der individuelle stimmen sich bewegen können. man kann das schrullig finden: wie er parker, astronomie, kung fu, mathematik, candomblé, insektenkunde und boxtraining zusammenschraubt… aber es bleibt doch spielerisch, wird in ständigen jams und workshops ausprobiert und entwickelt, aus denen regelmäßig neue talente aufpoppen, die dann selbstständig werden und in der regel young-lionesk wie akinmusire…

ware steht für mich für den glauben an das individuum, an die individuelle stimme, die sich über die empfindlich wahrgenommenen konflikte, ungerechtigkeiten, gestörtheiten ihrer zeit erheben und tatsächlich sowas wie „schönheit“ in einer hässlichen welt produzieren wollen. daraus erklärt sich die schiere kraft und vehemenz allein seines spiels und seines tons. leider ist es wirklich schwierig, einen jungen vertreter dieser „position“ zu finden.

natürlich gibt es viel mehr aktuelle positionen – ich denke dass das, was z.b. irene schweizer macht oder rob mazurek oder william parker oder peter evans, nochmal was anderes meint und will.

aus dieser idee heraus ist mir jedenfalls der marsalis-ansatz völlig fremd. steve coleman hat das young-lions-phänomen mal relativ griffig als kuze phase beurteilt, in der junge musiker jazz mal wieder mit geld und prestige verbinden konnten und deshalb musikalisch da rein gegangen sind. und auch ganz schnell wieder raus, als die großen plattenfirmen ihre jazzer wieder rausgeschmissen haben.

aber heute ist doch marsalis‘ einfluss (und der seiner hidden agenda) auf den jazz denkbar gering, oder? in den letzten jahren hat doch eher jason moran alle stipendien bekommen und alle kritiker- und institutions-würdigungen. und der setzt sich u.a. mit björk und radiohead auseinander…

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