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Ich mag diese Wendigkeit, Brillanz und den Swing von Marsalis. So etwas ist einfach super. Aber sonst interessiert mich seine Musik nicht, auch nicht die ganze irgendwie „klassisch“ angehauchte Art seiner Jazz-Darbietung. Ich bin in vielem nicht seiner Meinung und sein Jazz-Verständnis schließt auch das aus, was ich an „modernem“ Jazz besonders mag.
Doch ich schätze Marsalis wegen seines Engagements, seiner scharfen Zunge, seinem Witz, Charme … Er ist authentisch, verkörpert seine Linie überzeugend und meisterhaft und ist ein ausgezeichneter Kommunikator für den Jazz, der eine enorme Sache auf die Beine gestellt hat: Er hat den Jazz in den USA für eine breite bürgerliche Schicht zu einer attraktiven Sache gemacht, vermittelt eine Menge Kenntnis und Verständnis an viele Leute, denen Jazz sonst unbekannt geblieben wäre oder die ihn für ungenießbares Zeug hielten. Ich finde es wichtig, dass der Jazz eine breite Basis hat, dass ein Bewusstsein für die Meister der Tradition aufrechterhalten wird und Jazz als afro-amerikanische Kultur mit Stolz gepflegt wird.
Den Ken-Burns-Film finde ich ausgezeichnet. Er hat in den USA einer riesigen Menge von Fernsehern den Jazz auf wirklich ansprechende und durchaus niveauvolle Weise nahe gebracht. Es ist notwendig und angemessen, dass der Film die avantgardistischen Jazz-Bereiche weglässt, denn so etwas vergrault die Fernseher nur. Das muss man doch seit mindestens einem halben Jahrhundert wissen. Und das Weglassen schadet auch niemandem: Wer sich so weit mit Jazz beschäftigt hat, dass er sich für Cecil Taylor interessieren könnte, wird ihn finden. Er braucht dazu keinen Ken-Burns-Film. Das ist doch ein Witz: Was immer Marsalis auch über so genannte „Free Jazzer“ gesagt hat: Das nimmt doch keinem von ihnen auch nur einen Hörer weg. Und hindert niemanden, sich für „Free Jazz“ zu interessieren. Würde von Avantgarde überhaupt noch wer reden, wenn es Marsalis nicht täte?
Die allermeisten „Klassik“-Fans stehen auf Beethoven, Mozart, Bach usw. und mögen keine „Moderne“. Die „Moderne“ ist ein kleiner Bereich mit einem speziellen Publikum. Der „klassische“ Bereich und die „Moderne“ bestehen nebeneinander und haben am Rande gewisse Überschneidungen, die für den „modernen“ Bereich förderlich sind. – Was sollte es für einen Sinn machen, Besuchern der Bregenzer Festspiele einreden zu wollen, sie sollten gefälligst „modern“, „zeitgemäß“, „progressiv“ sein und Stockhausen hören?
Im Jazz hat man eine Menge Leute damit vergrault und damit die ökonomische Basis und die Akzeptanz des Jazz verschlechtert. Die meisten Leute glauben, modernen Jazz zu hören, sei eine Qual. Marsalis machte genau das Richtige: Er distanzierte sich konsequent von allem, was für das breite Publikum ungenießbar ist und bereitet den Leuten ein Jazz-Erlebnis, das sie genießen können. Amiri Baracke, der vielleicht bedeutendste Fürsprecher der Avantgarde in den USA der 1960er und 70er Jahre, sagte schließlich, er gehe lieber in ein Marsalis-Konzert. Ist so!
Der Ärger über Marsalis kommt von einer Realität, die anzuerkennen man sich zu lange geweigert hat: Die echt schwierigen Bereiche des Jazz sind kaum lebensfähig. „Free Jazz“ kann auf Unis und Konservatorien überleben – sonst nur unter deprimierenden Umständen, mit denen sich kaum jemand abfinden kann. Neuere Strömungen, die nicht „free“ sind, aber komplex, kommen auch kaum über die Runden. Man kann allen Leute, die nicht die Musik mögen, zu der man selbst gefunden hat, vorwerfen, sie seien ungebildet, dumm, ignorant, konsumsüchtig, rückständig, verständnislos, seelenlos … Es macht die Dinge nicht besser! Es gab schon lange, bevor laut Jazz-Literatur die große Unübersichtlichkeit ausbrach, sehr unterschiedliche Linien, eine Menge Konkurrenz, viel zu wenige Hörer für viel zu viele Musiker, viel Streit … Es ist ein reichhaltiger Markt mit prächtigen Wahlmöglichkeiten!
Übrigens: Marsalis‘ Buch „Jazz, mein Leben“ ist „das reinste Lesevergnügen, ein sehr persönliches und tiefgründiges Buch über Musik“ – das sagte Toni Morrison, eine wissende Frau! Man muss nicht das Buch durchchecken und bei allem, was nicht dem eigenen Jazz-Verständnis entspricht, laut aufheulen. Er hat seine Sicht und die ist in einem tiefgehenden und sehr positiven Spirit verwurzelt. – Als er jünger war, mag er zu provokant und verletzend gewesen sein. Aber das sind eben alles extreme Kämpfer. Und wenn man sich selbst gerne Gedanken macht, dann sind andere Meinungen nicht bedrohlich, sondern anregend. Und was die Logik anbelangt: Ich finde, Musiker-Aussagen muss man oft mehr gefühlsmäßig verstehen. Eine zu analytische Sicht verwirrt einen da oft nur.
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