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Also, nochmal von vorne…
I think there’s going to be an end to the old style of jamming on the bandstand that was really initiated during Charlie Parker’s time. Historically, that was never a part of jazz music, not in the beginning.
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bullshit
Jammen vor Publikum ist etwas, was es erst seit Parker gibt? Was für ein absoluter Unsinn, und was für eine Stilvorlage! Schon die Sessions, die Clarence Williams in den 20ern mit Leuten wie Armstrong und Bechet organisiert hat, waren nichts anderes als Jams – lose organisierte Sessions, in denen ein Haufen Musiker sich eines Stückes annahm, dieses in lockerer Form aufnahm.
The music was always based around melody. Solos didn’t come into fashion until Louis Armstrong and didn’t become ingrained into jazz until the bebop thing came along.
Melodie, so so… dass Armstrong der erste bedeutende Solist des Jazz war, kann man wohl stehen lassen, aber dass Solos erst mit dem Bebop Mode wurden? Pardon? Gut, die kurzen Soli in Big Bands kann man vielleicht zu Gusten Marsalis‘ ausnehmen, aber es gab auch in den 30ern schon wunderbare Small Group Sessions aus dem Ellington Umfeld, von Teddy Wilson (oft mit Lester Young und Billie Holiday), dann die Big Band von Count Basie, der Kansas City Swing von Jay McShann… da wurde munter soliert und ja, gejammt.
Die kleinen Formen (also die 8 oder 16 oder 32 Takte der Solisten der Big Bands) möchte ich persönlich allerdings überhaupt nicht ausnehmen – denn ich halte das gerade für eine ganz besondere Kunst im kleinen Raum, der eine 78er Schellack (ca. 3 Minuten, in den 40ern kamen dann auch 12″ 78er auf, auf denen über 4:30 Platz fanden) oder erst recht halben oder einen Chorus in einem Big Band Stück ein fertig geformtes, in sich schlüssiges und stimmiges Solo zu formen, innert einer halben Minute oder noch weniger ein fertiges Statement zu formulieren.
So I think that there will be more emphasis put on presentation and composition as opposed to just soloing, which is really a boring and predictable way of presenting music.
Mag sein, ja… aber spannend und lebendig ist der Jazz da, wo zwischen Form und Improvisation, zwischen Komposition und freien Teilen ein stimmiger Ausgleich gefunden wird.
Solos sind langweilig und vorhersehbar? Vielleicht wenn man immer noch rhythm changes spielt und ein mittelprächtiger Solist ist – sonst ist meine Erfahrung da eine ganz andere, nämlich gerade die, dass es im Jazz nichts gibt, was so spannend und mitreissend ist, wie ein gutes Solo!
I also think there will be a return to dance-oriented music, which has always been a part of the jazz tradition. We have a lot of bands in New York playing the dance halls now and there’s gonna be more. So I think that you’re going to see a lot of proliferation of the music on that level.
Jazz als Tanzmusik… das ist ja nun nicht mal Jazz bis ca. zum second quintet von Miles Davis, sondern bis vor der Bebop Revolution, bis vor dem 2. Weltkrieg. Mehr Retro ist schwer vorstellbar. Dass Jazz zum Tanz aufgespielt wird stört mich nicht im geringsten, aber wenn das heute geschieht, dann ist das dieselbe Musik, oft in denselben Arrangements, wie man sie in den späten 30ern und frühen 40ern schon gehört hat (soweit ich weiss ist bis heute das „originale“ Glenn Miller Orchestra unterwegs).
Mit Jazz hat das nichts mehr am Hut ausser die Form… aber die ist schon längst zum Repertoire, zur sinnentleerten und völlig sinnfreien Hülle verkommen (der einzige Sinn, den es da gibt ist der, dass sich offensichtlich immer mehr Leute nach Retro und Nostalgie verzehren… Wynton sagt denn auch als nächsten Satz: „But most importantly, I think we’ll see a return to adult conceptions of romance, which gives us much more latitude.“ – Was immer das heissen mag…)
I also think in the new millennium we’re going to deal with what I call “total jazz,” which is a term Duke Ellington used. And to me that means jazz in every form that it can be played in.
Genau das wurde schon angetönt: Jazz in all seiner Vielfältigkeit, vom Mainstream bis zur Avantgarde, vom „Buurezmorge“ mit Dixieland-Truppe bis zur distinguierten Cüpli-Gesellschaft, die bei Vernissage der neuen Cy Twombly-Ausstellung den Klängen einer Wasserharfe und einer Subkontrabassflöte lauscht… eben: Jazz als völlig sinnfreie Repertoiremusik, als leere, längst hirntote Hülle. Und das ist nach meinem Empfinden kein Jazz mehr.
Aber Hauptsache noch rasch Duke Ellington als Gewicht in die Waagschale geworfen – mir blutet das Herz!
So if you have the very elite avant garde, which a lot of what they play I don’t consider to be jazz, it’s more improvised music… you’ll always have that, you had that before form. And a lot of people are mistaken by thinking that that’s an advance. That’s the first thing you have. If you have a group of kids in a room you’re not going to tell them to play on the form. It’d take you forever to teach them how to play the form. They have to babble first. And they’ll play all kinds of stuff, man, and find all kinda little ways to relate and they improvise. So you’ll always have that. That’s one aspect of music and that’s very, very elite, meaning that you’re not going to have a lot of people pay to hear that.
Prämisse 1: Avantgarde ist unglaublich elitär
Prämisse 2: Kinder machen Avantgarde
Konklusion: … na was nun? Kinder sind elitär? Kinder müssen geformt werden? Avantgarde-Künstler sind auf dem psychologischen Niveau von ungeformten Kindern stehengeblieben? Bullshit, Mister Marsalis, utter bullshit!
Philosophically, I think we’re going to see a retreat from the 20th century misconception that abstraction is always the way to develop material. Picasso told everybody that that wasn’t true and they didn’t hear it. Abstraction is one way to develop material, that’s all.
Der nächste Gewährsmann nach Ellington ist Picasso, wieder ein Jahrhundertkünstler, der die Entwicklung der Malerei (und Skulptur) am eigenen Werk geprägt und mitvollzogen hat… Abstraktion ist also eine Fehlkonzeption? Gnädiger: nur eine Möglichkeit unter vielen.
Natürlich, die gnädigere Version ist nicht von der Hand zu weisen… aber bevor man über solche Dinge diskutiert, muss man erstmal die Begriffe klären: was ist Form, was ist konkret, was ist abstrakt? Gerade in der Musik… ist konkret, wenn man wie Mingus in „A Foggy Day“ eine realistische Geräuschkulisse abbildet? Das ist aber zugleich Avantgarde… ist es Avantgarde, wenn man mit dem Instrument die primitivsten, einfachsten und stärksten Gefühlsregungen der menschlichen Stimme imitiert? Das ist doch zugleich auch konkret, nicht? Ich verstehe diese Begrifflichkeit beim besten Willen nicht und halte sie für ziemlich untauglich, um über Jazz zu reden.
Wenn nämlich „konkret“ heisst, Abwandlungen und Weiterentwicklungen von europäischen Volksliedern mit afrikanischen Rhythmen zu kombinieren, Jazz Standards zu spielen, dann verstehe ich ehrlich gesagt nicht ganz, was an der Kunstmusik konkret sein soll, unabhängig davon ob sie – siehe unten – auch rituellen Charakter oder Gebrauchscharakter (als Tanzmusik) hat.
And jazz music more than any other music has its foot in the camp of ritual. It has because of that aspect of it that is derived from African music is ritualistic music. That’s why they still have New Orleans parades and they still have the same feeling that they had. The musicians maybe don’t play as good now but the feeling of it with the people is exactly the same.
Jazz ist Ritual, und auch wenn die Musiker von heute nur noch Zwerge auf den Schultern von Riesen sind, sind die Gefühle, die ihre Musik auslöst, noch genau dieselben wie früher? Hallo? Schon mal nachgedacht, dass Rituale ihre Bedeutung im Wechselspiel mit der Umgebung, der sich wandelnden Kultur erst erhalten (und sei’s in Ablehnung derselben oder im Versuch, deren unaufhaltbares Fortschreiten – was keinen Fortschritt meint, wohlgemerkt – aufzuhalten). Rituale werden mit Bedeutung aufgeladen, diese Bedeutung ist niemals dieselbe wie zu anderen Zeiten… auch wenn es heute noch traditionelle Begräbnisse mit marching bands in New Orleans gibt, was die Leute heute dabei empfinden und fühlen ist mit Sicherheit nicht dasselbe wie das, was sie in den 1910er oder 1920er Jahren empfinden… ich glaube nicht, dass es solche allgemeinen kulturellen Konstanten gibt.
We got off track kind of imitating European critics and European music for a long time. But you’re going to see us get on track, because you can’t develop very, very long traditions when you’re dealing with abstraction. That will give only 30, 40, 50, maybe 60 years of development. Whereas, when you believe in rituals—like the Greeks were ritualists—then you have hundreds of years of development. Japanese are ritualists. Like, they’ll tear down a temple and rebuild it the exact same way so the thing that’s the oldest thing is also the newest. And we’re gonna see more of that, philosophically.
If you permit, dear Sir, that’s more utter crap… Der erste Satz mag als weit gestreuter Seitenhieb verstanden werden: vom Third Stream bis zur europäischen Jazzkritik und deren (angeblicher) Vorliebe für die Avantgarde. Mit Abstraktion lässt sich keine Tradition begründen… nun gut, das weiss ich nicht, aber wenn das Berliner Schloss mit der alten Fassade massstabgetreu wieder aufgebaut wird wird doch niemand ernsthaft bedeuten wollen, dass die Empfindungen, die das Gebäude, Gebilde, auslösen wird, exakt dieselben seien wie damals?
Dieses Verständnis führt zur endgültigen Einbalsamierung des längst hirntoten Koma-Patienten. Und wir kennen ja die Gruften in Palermo oder Wien… mit Einbalsamierten kann man wirklich lange ungestört leben und auf totem eine totgeborene Tradition entwicklen, hunderte Jahre lang… das beste daran: das das Objekt des Interesses einbalsamiert ist, wird es dabei auch nie stören!
JazzTimes: But isn’t this whole aspect of the jam aesthetic on stage part of a jazz ritual?
Marsalis: No, that’s part of an abstraction. That’s not how the music started. The initial impulse of music wasn’t even to solo. Soloing was a special thing. The solo always lifted the tune up. And now the tune lifts the solos up. […] But in a performance you would never have that kind of jam aesthetic. That came in during the ’40s with Charlie Parker and everybody. Before that it was always the arrangement and a little bit of solo.
Das hab ich oben schon angesprochen… es geht nicht um das Solo an sich, es geht um das Wechselspiel. Die kurzen Breaks, die King Oliver und Louis Armstrong gemeinsam gespielt haben, sind improvisierten Charakters und das reicht bereits, um den erstaunlichen Effekt zu erzeugen, den Jazz-Musik im besten Fall eben haben kann. Wenn dann Leute wie Armstrong, Bechet und andere „richtige“ Soli spielten, war das noch viel deutlicher zu empfinden.
Jam als Abstraktion, also als Perversion, Entfremdung – das ist eine etwas harte Unterstellung meinerseits, aber so hört sich Marsalis‘ insistieren nur einfach an… das ist natürlich kompletter Unsinn, denn wie gesagt, das Element des Jams war allem Anschein nach von Anbeginn zentral im Jazz. Vielleicht nicht immer vor Publikum, gewiss nicht – falls nur das zählt für Marsalis, den Verdacht habe ich – vor Massenpublikum, aber gejammt wurde schon immer, das ist überliefert. Dass es davon keine Zeugnisse in Form von Tonaufnahmen gibt, kommt Marsalis natürlich sehr gelegen, aber spätestens in den „From Spirituals to Swing“-Konzerten, die John Hammond 1938 und 1939 organisierte, und auch in Benny Goodmans 1938er Carnegie Hall Konzert, wurde vor grossem Publikum munter gejammt UND davon in Form von Tonaufnahmen Zeugnis abgelegt.
Dass das Solieren erst mit dem Bebop zum zentralem Element im Jazz wurde, ist schlicht und einfach falsch, völlig falsch. Einige Beispiele habe ich oben schon genannt, andere sind die Small Groups von Benny Goodman, die Sessions von Lionel Hampton und viele andere.
Hampton nennt Marsalis dann auch als eine Ausnahme, die wohl seine angebliche Regel bestätigen soll.
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Das ist jetzt etwa ein Drittel des Textes, den ich heute morgen verloren hab… weiter schaff ich’s jetzt nicht mehr, vielleicht folgt morgen mehr, vielleicht auch nicht, denn eigentlich wird schon bis dahin klar, wie ideologisch gefärbt Marsalis‘ Betrachtungsweise ist – was ihm nicht in den Kram passt wird schlicht weggeredet, verdreht, ignoriert.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #157: Benny Golson & Curtis Fuller – 12.11.2024 – 22:00 / #158 – 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba