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Klar ist Marsalis rein technisch gesehen ein hervorragender Trompeter – aber das ist mir sowas von egal. Technik allein reicht im Jazz nicht, seine ganzen Imitiertricks machen das auch nicht besser… dass er als Jüngling mit Blakey spielen konnte (doch, das konnte ziemlich jeder, denn die waren alle noch jung, Blakey hatte meist einfach den richtigen Riecher und hat sich sehr talentierte Leute geholt, die bei ihm wohl mehr gelernt haben als man in jeder Jazzschule lernen kann… den Erfolg scheint er bei Wynton nicht gehabt zu haben, sonst wäre dieser bestimmt anders rausgekommen) heisst noch nicht besonders viel.
Keith Jarrett hat übrigens eine lange Fehde gegen Marsalis geführt (ich glaub das endete dann irgendwann, wohl um die Zeit, als Jarrett sich wegen seines chronic fatigue syndrome zurückgezogen hatte) – und es bestanden nie Zweifel, auf welcher Seite man da zu stehen hatte, bei aller (potentiellen) Abneigung, die man gegen Jarrett auch hegen mag.
Die Entwicklung des Jazz ab den 70ern – atom das schon angetönt – ist nicht unbedingt vielfältig. Irgendwie schon, aber irgendwie auch nicht. In erster Linie ist es die Geschichte einer Zersplitterung, es gibt keinen Haupstrom mehr, wie ihn die Stil-Epochen-Reihe oben andeutet.
Free Jazz und den frühen Jazz Rock sehe ich letztlich als gar nicht so unähnliche Versuche, musikalische Freiheit zu gewinnen – allerdings vor völlig unterschiedlichem soziokulturellen Hintergrund. Was danach folgte, ist schwierig zu fassen… eigentlich lief alles irgendwie weiter, es gab noch bis in die 90er oder 00er Jahre aktive Swing-Musiker, es gab und gibt den einen oder anderen survivor aus der Bebop-Ära (Lou Donaldson etwa), auch ein paar der Hardbop-Junkies hatten wundersam lange Leben (Freddie Redd und Butch Warren weilen noch unter uns, Freddie Hubbard verstarb erst kürzlich, Sonny Rollins – so man ihn als Hardbopper sehen mag – ist auch noch aktiv), von den jüngeren Musiker sind natürlich erst recht noch viele unter uns – aber viele haben ihren Stil geändert, sind aus der Avantgarde in einen wie auch immer zu definierenden Mainstream „zurückgekehrt“ – ich denke da etwa an Archie Shepp, der allerdings schon immer Bezüge zu Ellington und dem Blues in seiner Musik hatte. Ornette Coleman und Cecil Taylor mögen da die grossen, enigmatischen Ausnahmegestalten sein, die unbeirrt ihren Weg verfolgten… daneben gibt es natürlich viele andere, weniger bekannte Musiker. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen (die in der schnellen Entwicklung des Jazz – sagen wir mal von 1925 bis 1965 – eh schon angelegt ist) hat auch in nachfolgenden Generationen zu grosser Vielfalt geführt… es gibt junge Avantgarde-Musiker (und immer mehr Musikerinnenn), es gibt Mainstream-Musiker im weitesten Sinne (darunter fast alle young lions, inkl. Marsalis), es gibt allerlei Experimente an den Rändern… aber die grosse Frage bleibt, ob’s was Neues gab und gibt… ich bin da eher skeptisch, denn mit sich ändernden Mitteln (Ikue Moris iBook statt Dr. Patrick Gleesons analoge Synthesizer) entsteht keineswegs automatisch neue Musik. Vieles, was sich im Bereich des elektrischen Jazz so getan hat etwa, wirkt geradezu zahm, wenn man Miles Davis‘ Musik aus der Mitte der 70er danebenstellt. Verschmelzungen mit diversen „ethnischen“ Musiken gab’s auch schon längst, das fängt schon bei Leuten wie Yusef Lateef an, John Handy mit Ali Akbar Khan und Buddy Rich mit Alla Rakha gab’s schon in den 60ern (und schon in den 50ern gab’s Olatunji und andere) – und ob neuere Experimente wirklich organischer geraten sind, ist wieder eine andere Frage.
Ich will damit keineswegs sagen, es gäbe heute keinen guten Jazz mehr – ganz im Gegenteil, in meiner Liste hab ich ja auch einiges drin aus den 90ern und 00ern. Auch bin ich ziemlich schnell, in solchen Debatten heutiges zu verteidigen – unabhängig davon, ob’s musikalisch neu ist, es gibt vieles, was ich für gültig halte, was in einem abgesteckten Rahmen zu eigenem Ausdruck findet und schlicht und ergreifend gute Musik entstehen lässt.
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