Re: Jazz: Fragen und Empfehlungen

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gypsy-tail-wind
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Alex, Alex… :-)

Für die anderen: Wir hatten vor ein paar Tagen via PN eine längere Unterhaltung. Alex meint, Perry Como, Doris Day und Bing (he he) seien Mainstream und im Jazz habe das zugegenermassen dumme Etikett wenig belang… ich zitiere mal aus meinen PNs an ihn, in denen ich versucht habe, den Begriff einigermassen zu umreissen.

Das schwierige daran ist, dass er sich mit der Zeit wandelt und dass ich mir Mainstream quasi (bis ca. 1960 oder 1965) wie ein gefrässiges Monster vorstelle, der quasi die älteren Stile sukzessive „auffrisst“… ungeschönt meine PN-

gypsy tail wind…das ist eigentlich keine abwertende Bezeichnung. In den 50ern gab’s auch schon Leute, die Mainstream machten: Roy Eldridge, Henry „Red“ Allen, was weiss ich… alles, was quasi beim Hardbop stehengeblieben ist (oder noch früher, im Swing… bei manchen vermischt sich das ja auch, etwa bei Frank Foster), läuft unter dem Etikett.

Und genau darum gehört Konitz auch nicht rein, weil er in den 60ern und 70ern weit darüber hinaus ging, freie Musik machte, vieles ausprobierte… aber dennoch kann man seine Musik seit den 80ern oder 90ern wenn man will durchaus als „Mainstream“ bezeichnen.

Damit, ob improvisiert wird oder nicht, hat das nichts zu tun. Die Bezeichnung bezieht sich ja immer nur auf das kleine Gärtchen des Jazz, nicht auf die Musik insgesamt (also wenn Robbie Williams auch mal als Mainstream bezeichnet wird, hat das mit Konitz oder Monty Alexander nichts zu tun).

Die Bezeichung wird schon manchmal mit abwertendem Unterton gebraucht (wohl auch von mir) – das ist aber eher bei Leuten der Fall, die eben stark zur Avantgarde tendieren, Freejazz-Fans sind, oder so. Aber an sich ist das für mich eine wertneutrale Bezeichnung.

Zum Vorwurf, dass alles in einen Topf geworfen werde:

gypsy tail windDas ist natürlich eine Sichtweise, die von heute aus zurückblickt. Wenn man die Musik in der Entstehungszeit betrachtet, macht das Label „Mainstream“ so allgemein angewandt natürlich keinen Sinn – aber es macht durchaus Sinn, wenn man es auf gewisse Richtungen anwendet, die damals als Mainstream betrachtet wurden (etwa Roy Eldridge oder Benny Carter in den 50ern – das waren ja Swing-Musiker, die mit dem modernen Jazz wenig am Hut hatten… später fallen dann auch die Bopper in die „Mainstream“-Schublade, so ist halt der Lauf der Dinge…)

gypsy tail windIch glaube nicht, dass jemand irgendwann „Mainstream“ definitert hat, ist ja auch kein wissenschaftlicher Begriff

Und ja, ich würde auch Leute, die heute Cool Jazz spielen als „mainstream“ bezeichnen. Aber selbstverständlich ist „Cool Jazz“ ein tauglicheres und aussagekräftigeres Etikett (aber am Ende gerade so wie „West Coast Jazz“ auch ein schwer zu umreissendes). Es kommt ja immer auch auf den Zusammenhang an… aber wenn ich „Cool Jazz“ höre (und übrigens: Lee Konitz ist schon seit Jahrzehnten zu „hot“, um noch als „Cool Jazz“ durchzugehen!) denke ich an die frühen 50er in New York und Kalifornien (Miles, Chet, Mulligan, Chico Hamilton, Jimmy Giuffre) und nicht an eine zeitgenössische Musik (die wär dann eben sowas wie „Mainstream mit Wurzeln im Cool Jazz“ oder so).

Mit Individualität hat das übrigens gar nichts zu tun, denn gerade im alten Mainstream, also bei den Leuten, die schon in den 50ern und 60ern im weitesten Sinne als „Mainstream-Musiker“ bezeichnet werden könnten, findet sich soviel individueller Ausdruck wie später kaum noch (das ist eine These, die ich anderswo im Forum schon mal geäussert habe, dass Bebop quasi die Spannbreite an Individualität eingeschränkt hat): Roy Eldridge, Buck Clayton, Harry Edison, Ray Nance, Cootie Williams, Clark Terry, Don Byas, Coleman Hawkins, Ben Webster, Benny Carter, Willie Smith, Johnny Hodges, Pee Wee Russell, Teddy Wilson, Dickie Wells, Vic Dickenson, Bennie Morton, Al Grey, Quentin Jackson… das sind Stimmen, die aus der Swing-Ära oder noch davor stammen, die aber in den 50ern (und teils weit darüber hinaus) noch zu hören waren, die aber spätestens mit dem Bebop nicht mehr „dabei“ waren… und deswegen quasi in den Mainstream fallen… ich stelle mir das so vor, dass der Mainstream quasi alles das aufsaugt, was nicht an vorderster Front ist… also zuerst Swing, dann Bop, dann Cool, dann Hardbop… und dann kommt ein Bruch, denn Freejazz, die ganze Avantgarde der 60er, wurde nie Teil des Mainstreams (bzw. – das ist eine andere These von mir – es gab da einen eigenen Mainstream, in den etwa David S. Ware fällt, ein Liebling vieler Leute hier im Forum, mit dem ich nur beschränkt was anfangen kann).

Der Jazz spaltet sich dann auf, ab 1964 oder 1965 gibt’s Freejazz in unterschiedlichsten Spielarten, ab ca. 1968 kommt dann der Jazzrock dazu, der anfänglich gar nicht so anders war als der Freejazz und auch eine Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten war (zumindest teilweise… die Suche nach einem neuen Publikum, nämlich dem Rock-Publikum, spielte natürlich auch eine wichtige Rolle, und die Haltung und der Hintergrund waren auch ziemlich anders).

Ich hoffe, man vergibt mir diese Nabelschau… weitere Meinungen und kritische Einwürfe sind natürlich willkommen!

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