Re: Dave Brubeck

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Die spätesten Brubeck-Alben, die ich bisher kenne, wurden dann in den Siebzigerjahren für Atlantic eingespielt, Mulligan ist anfangs noch mit dabei.

Die gleiche Band, die in Berlin ein beeindruckendes Konzert gegeben hatte, trat am 3. Juli 1971 am Jazzfestival in Newport auf: Mulligan, Brubeck, Six und Dawson. Erneut war die Situation eine besondere, hatte doch unmittelbar vor Brubecks Auftritt der Trompeter Bill Chase (Kenton- und Herman-Veteran und Lead-Trompeter) mit seiner Jazz-Rock-Band „one of the most exciting opening sets that we ever had at the Newport Jazz Festival“ gespielt, wie George Wein sich erinnert.
Brubeck musste unmittelbar danach auf die Bühne, bat Wein vergeblich, er solle doch bitte die Lautstärke der Sound-Anlage soweit wie möglich hochdrehen. Wein: „I told him to forget it and go out and ‚wail‘.“
Und genau das tat die Gruppe dann auch – ein viel kürzeres aber fast ebenso energetisches Set wie in Berlin ist das Resultat. Den Auftakt macht der sechzehnminütige „Blues for Newport“ mit tollen Soli von Mulligan und Brubeck, gefolgt von „Take Five“ und dem Closer „Open the Gates (Out of the Way of the People)“, eine Brubeck-Original, mit eigenartig-zickigem Beat, der mit 3 über 2 (oder umgekehrt) spielt und von Dawson mit leichtem pulsierenden Spiel mit Marschtrommel-Anklängen getrieben wird.
Das ganze Set dauert etwa 34 Minuten, aber in dieser vergleichsweise kurzen Zeit wird Musik auf hohem Niveau und vor allem Musik höchster Intensität gespielt, die Band steigert sich nach dem aufgeladenen Opener noch weiter, ganz wunderbar, wie sich Mulligan in der letzten Nummer erst mit einer leisen Stimme einschleicht, die fast wie ein zweiter Kontrabass klingt, um dann nach Brubecks Solo erst richtig loszulegen. Man vergebe mir den schiefen Vergleich, der durch Friedrichs BFT inspiriert ist: Wie die Band hier die Vamps reitet, das ist gar nicht soooo anders, als was viel später etwa das Orchester des explodierenden Sternes tut (oder wie redbeans zu sagen pflegt: ne, der Brubeck kann schon was [er ist ja noch nicht tot]).

1972 ging Brubeck mit seiner Band auf eine Newport-in-Europe-Tour, organisiert von George Wein: Neuseeland, Australien, Japan, kurz zurück in die USA, dann Paris, London und weitere europäische Städte, darunter auch Belgrad (1958 war Brubeck schon in Polen – beide Male im Auftrag des State Departments). Dadurch, dass Paul Desmond wieder mit dabei war, ergab sich gewissermassen eine Mischung der beiden Bands, der aktuellen mit Mulligan und der früheren langjährigen mit Desmond.
Das Album wurde zusammengestellt mit Aufnahmen aus Rotterdam, Paris und Berlin. Es war das allererste Brubeck-Album, das ich hörte (die LP ist noch immer im Besitz meines Vaters) und Desmonds Spiel auf dem „Koto Song“ verzaubert mich heute noch so wie damals, als ich wohl zwölf oder dreizehn Jahre alt war. Andere Stücke knüpfen eher an die stompend-intensiven Live-Aufnahmen mit Mulligan an, aber auch auf „Take Five“ bläst Desmond ein erstes Solo, das wunderbar relaxt daherkommt und die Rhythmusgruppe ruhig werden lässt – die Ruhe vor dem Stum gewissermassen, der danach mit dem spontan improvisierten „Rotterdam Blues“ folgt. Auch die Niederländer wollten das Konzert nicht enden lassen, und so spielte Brubeck für sie als Closer „Sweet Georgia Brown“, solo, ein einziger Chorus.

Nach etwa viereinhalb Jahren war an diesem Punkt auch die Zeit der Band mit Mulligan, Six und Dawson abgelaufen. Brubeck konzentrierte sich in der Folge auf sein neues Projekt „Two Generations of Brubeck“, in dem seine Söhne Chris (tb/b), Darius (elp) und Danny (d) mitwirkten. Es entstanden zwei Atlantic-Alben, „Two Generations of Brubeck“ und „Brother, the Great Spirit Made Us All“, auf denen zudem Perry Robinson und Jerry Bergonzi sowie der Bassist Dave Powell mitwirkten. Kennt jemand die Alben? Dass Robinson auf ihnen zu hören ist, ist mir völlig neu!
Es entstand zudem eine Kantate mit dem Titel „Truth Is Fallen“ (rec. 1971, wie die beiden Two Generations-Alben auch bei Atlantic veröffentlicht), in der Brubeck sich – vor dem Hintergrund der Nixon-Zeit – anscheinend endgültig mit der Jugend solidarisierte und auf die Kent State und Mississippi State Morde bezug nahm.

Umrahmt wurden die Alben mit den Söhnen von den Sessions zu „All the Things We Are“, einem der eigenwilligsten Alben in Brubecks Werk. Noch mit Jack Six und Alan Dawson spielte Brubeck im Jul 1973 ein zwanzigminütiges Medley mit Stücken von Jimmy Van Heusen ein: „Deep in a Dream“, „Like Someone in Love“, „Here’s That Rainy Day“, „Polka Dots and Moonbeams“ und „It Could Happen to You“. Es nimmt den Grossteil der zweiten Seite der LP ein. Die restlichen Stücke wurden im Oktober 1974 mit Lee Konitz und Anthony Braxton am Altsax, Six, sowie Drummer Roy Haynes eingespielt. Prouziert hat diese besondere Session der junge Michael Cuscuna.
Haynes‘ snap-crackle ist im ersten Stück, einer Quartett-Version von „Like Someone in Love“ mit Konitz, sofort die prägende Stimme, wirkt ganz anders, viel präsenter als Dawson. Konitz spielt mit trockenem, eigenwilligem Ton, der aber nach Brubecks Solo einiges zupackender und voller wird. Nach einem schönen Solo-Intro von Brubeck, zu dem sich dann die Rhythmusgruppe gesellt, ist auf „In Your Own Sweet Way“ dann Anthony Braxton zu hören – und siehe da, die Kombination funktioniert bestens! Zum Abschluss der ersten Seite ist dann das Titelstück zu hören, in dem beide Altsaxophonisten mitwirken. Gegen Ende verweben sich die Stimmen von Konitz und Braxton und man wähnt sich fast in einer typischen Westküsten-Session der Fünfzigerjahre… schade, dass es nur ein Stück mit beiden zusammen gibt!
Dann folgt das lange Van Heusen-Medley, das zuerst in Newport präsentiert worden war – George Wein 1973 bat diverse Künstler, ein Medley mit Stücken ihres Lieblingskomponisten zu präsentieren. Brubeck kam dem Wunsch mit dieser etwas überraschenden Wahl nach und spielte mit Six und Dawson etwas später die Studio-Version fürs vorliegende Album ein – die einzige Trio-Session in dieser Besetzung übrigens. Jack Six kriegt ein längeres Solo in „Here’s That Rainy Day“, Brubeck leitet die meisten Stücke solo ein, seine Wurzeln in Boogie und Stride treten erneut zum Vorschein, im Mittelpunkt stehen allerdings Van Heusens Melodien.
Den Abschluss macht ein letztes Stück vom Oktober 1974, das spontan eingespielte Duo mit Lee Konitz über Ellingtons „Don’t Get Around Much Anymore“ (gemäss Cuscuna war Braxton mit dem Stück nicht vertraut genug, um mitzuwirken). Das kurze Stück ist vielleicht das Highlight dieses schönen, aber doch recht uneinheitlichen Albums. Brubeck ist mit Ellington vertraut und Konitz lässt sein Saxophon förmlich singen, streut sogar etwas Vibrato ein.

Eine weitere auf Platte dokumentierte Begegnung von Braxton mit Konitz fand übrigens 1981 im Rahmen des Woodstock Jazz Festivals in Karl Bergers Creative Music Studio statt. Zwei der drei langen Jams auf der zweiten CD von Knit Classics präsentieren die beiden Saxophonisten mit Chick Corea, Miroslav Vitous, Jack DeJohnette und Pat Metheny („No Greater Love“ und „All Blues“, Metheny spielt nur auf letzterem). Auch das keine wirklich genutzte Chance, leider.

Vor ein paar Jahren erschienen einige schöne CDs mit Live-Aufnahmen vom Jazz Festival in Monterey, Kalifornien. Darunter fand sich auch die obige Brubeck-Compilation, die im Eilschritt seine Auftritte von 1958, 1962 und 1966 (mit Desmond, Wright und Morello), 1971 (mit Mulligan, Six und Dawson), 1985 (im Duo mit Bassist Stan Poplin), 1998 (mit Bobby Militello, Christian McBrie und Randy Jones) sowie 2006 und 2007 (mit Militello, Michael Moore und Jones) abhakt. Ein weiteres Stück vom Konzert von 1958 ist schon auf dem 3CD-Set „Monterey Jazz Festival: Forty Legendary Years“ (Malpaso/Warner Bros. 1997) erschienen, „For All We Know“.
Die Brubeck-CD beginnt mit der „Two Part Contention“, dem längsten Stück der ganzen CD. Über zwölf Minuten demonstriert das „klassische“ Brubeck-Quartett einmal mehr sein Können, dem zu Lauschen stets eine Freude ist – wenngleich Brubecks eigenes Solo hier ziemlich gehämmert und grobschlächtig daherkommt. Von 1962 hören wir „Someday My Prince Will Come“, eins der schönsten Stücke aus dem Disney-Universum, in dem Wright mit seinem fetten Bass jeweils auf 1 den Boden legt, während Desmond über den leicht rumpelnden 3/4 von Morello ein wunderbares Solo bläst. Brubeck mischt sich erst nach einer Weile ein und spielt in seinem Solo dann – wie so oft und wie immer sehr effektvoll – mit 2 über 3.
Von 1966 ist hören wir dann das unvermeidliche „Take Five“ und weiter geht’s danach mit zwei tollen Stücken von 1971 mit Mulligan in bester Form: „Sermon on the Mount“ wird über einem eingängigen Bass-Ostinato präsentiert, Mulligan spielt ein tolles Solo, während Brubeck sich völlig im Hintergrund hält. Das exotisch angehauchte Stück hatten Dave und Iola Brubeck ursprünglich für einen Sänger (Bariton natürlich) komponiert – der Vorschlag, es für Improvisation zu öffnen stammte anscheinend von Iola. Vielen Dank dafür! So stark wie hier ist Mulligan nämlich selten zu hören! Das zweite Stück, „Jumping Bean“, stammt von Mulligan, die Rhythmusgruppe wechselt zwischen Latin und straight hin und her, während Brubeck und Mulligan schöne Soli spielen… und die Rhythmusgruppe ist wirklich vorzüglich, das kann man hier gar nicht genug betonen!
„Tritonis“ von 1985 ist natürlich dem „teuflischen“ Intervall, der verminderten Quinte, gewidmet, die Brubeck immer wieder in seinen Kompositionen verwendet hat (und die im Bebop erstmals zu grosser Prominenz fand, zumal im Jazz). Bobby Militello an der Flöte ist der Solist, Chris Brubecks Bassgitarre irritiert etwas, gerade in der Mischung mit Brubecks äussert klar gespieltem Piano. Die Rhythmen verschachteln sich hier nur so ineinander – und dennoch klingt das alles erstaunlich leicht. Gerade bei dem modernen Sound dieser Gruppe wundere ich mich, ob die ganzen Jungtürken der 80er und 90er, die so grosse Freude an krassen Rhythmen hatten, eigentlich Brubeck je ihren Tribut gezollt haben? Das hier ist nämlich verdammt funky und dass Brubeck lange Zeit Pionierarbeit geleistet hat, kann man trotz allfälliger Farb- und Coolness-Barrieren schwer unterschlagen (und klar, Roach hat auch früh 3/4 gespielt, auch Monk hatte davor schon mal ein 6/8-Stück komponiert [auf dem Roach trommelte] und natürlich im Rahmen von 4/4-Stücken viel mit Rhyhtmen angestellt… aber dennoch, Brubeck war der erste, der so weit ging).
Von 1998 stammt dann „Goodbye Old Friend“. Brubeck hat es kurz nach Mulligans Tod 1996 komponiert und seinem Freund gewidmet. Eine sehr schöne, kurze Hommage an den alten Mitstreiter.
Die CD endet dann mit drei Stücken der aktuellsten Brubeck-Band mit Bobby Militello am Altsax und Randy Jones am Schlagzeug. Auf dem ersten Stück, „I Got Rhythm“, ist Christian McBride am Bass zu hören und sein altmodisch-solider Beat ist sehr prägend für den Groove der Nummer. Militello spielt ein erdiges Solo mit fettem Ton, wohl einigermassen vom reifen Phil Woods geprägt. McBride kriegt dann auch sein Solo. Auf den letzten beiden Stücken ist dann Michael Moore am Bass zu hören. „Sleepy“ ist ein altes Stück, das etwa Benny Carters Big Band Ende der Dreissigerjahre gespielt hat, es wird in schnellem Tempo präsentiert (und enthält wieder ein gutes Bass-Solo, wenngleich mit viel dünnerem Ton). Zum Abschluss hören wir noch einen Oldie, „Margie“ aus dem Buch der Lunceford-Band. Funky swingend und mit seinem traditionell zickigen Groove für Brubeck bestens geeignet (und mit Arco-Solo von Moore), endet die schöne Compilation, die durchaus Lust auf mehr macht…

Übrigens ist auf Organissimo zu lesen, dass popmarket möglicherweise auch eine Live-Box des Quartetts plant. Wenn ich das richtig überblicke, würde sie die folgenden Alben umfassen:
– Jazz Goes to College (1954)
– Dave Brubeck at Storyville – 1954 (1954)
– Jazz Red Hot & Cool (1954/55)
– Dave Brubeck [& Jay & Kai] at Newport (1956)
– Jazz Goes to Junior College (1957)
– Dave Brubeck in Europe (1958)
– Newport 1958 (1958)
– Brubeck in Amsterdam (1962)
– At Carnegie Hall (1963)
– Dave Brubeck in Berlin (1964)
– Jackpot (1966)
– Dave Brubeck (aka „Bravo! Brubeck! Recorded live in Mexico“) (1967)
– Buried Treasures (1967, erstmals 1998 veröffentlicht)
– Last Time We Saw Paris (1967)
– sowie allenfalls weiteres von Newport (siehe Legacy Edition von „Time Out“, 1961/63/64)
Das wäre jedenfalls auch eine sehr interessante Angelegenheit!
Es fehlten dann noch die Alben mit anderen MusikerInnen und SängerInnen (The Riddle, das Album mit Jimmy Rushing und die Alben mit Carmen McRae, sowie The Real Ambassadors), zudem auch noch das Solo-Album „Brubeck Plays Brubeck“ (1956).

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