Re: Dave Brubeck

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Hab gestern wieder mal mit Brubeck angefangen und bin immer noch dran… ein paar kurze Gedanken:

Das „Dave Digs Disney“-Album wächst… erster Eindruck lag bei etwa ***1/2 (nachdem ich das Album auf dem dritten Brubeck-Set von Avid kennengelernt hatte), die Legacy-Edition (CD1: Mono-Version + 2, CD2: Stereo + 2 wobei der zweite schon ein alt. Take ist, dazu noch 5 weitere alt. Takes) gab’s bei mir dann im vergangenen August und die Begeisterung hielt sich noch immer in Grenzen, aber nach einigen Durchgängen ist sie gestern bei **** mit Raum nach oben angekommen und gefällt mir langsam richtig gut. Ein paar Edits sind unterschiedlich in der Stereo-Version (die anscheinend mit einem einigermassen sauberen Spread zuvor nicht zu hören war).

Gestern lief auch noch das Bootleg mit den Newport-Sets von 1956 und 1959. Jenes von 1958 mit der Ellington-Playlist bleibt wohl das speziellste aus den 50ern, aber auch hier: gute Musik. Der Unterschied zwischen Bates/Dodge und Wright/Morello ist recht frappant, finde ich. Erstere machen ihren Job zwar sehr gut, aber sie bleiben eben doch Statisten, während Morello (daran musste Desmond sich ja erstmal gewöhnen, siehe Links oben) und Wright doch wesentlich mehr eingreifen und die Musik der Band erst richtig zusammenkommen lassen. Davor gibt’s viel Desmond und Brubeck mit kompetenter Begleitung, danach gibt’s richtige Gruppen-Musik. Klar, dass mir letzteres besser gefällt, wenngleich ich niemals auf die frühen Aufnahmen verzichten möchte (womit aber nicht unbedingt das Newport-Set von 1956 gemeint ist).

Erstmals gehört habe ich gestern auch „Their Last Time Out“, das letzte Konzert, das das Quartett mit Wright/Morello am 26. Dezember 1967 gegeben hat, bevor Brubeck die Band auflöste. Die Musik ist wunderbar, entspannt und locker wird auf höchstem Niveau musiziert, die Soli von Desmond sind streckenweise grandios (ein besonderes Highlight für mich: die Ballade „La Paloma Azul“ gegen Ende des ersten Sets).
Kann ich Fans der Band vorbehaltlos empfehlen (Einsteigern würde ich zunächst zu einigen Studio-Alben raten, „Time Out“, „Time Further Out“, „Jazz Impressions of Japan“ und auch was aus früheren Jahren, „Jazz at Oberlin“ und „Brubeck Time“ etwa, letzteres allein wegen dem Stück Audrey: This piece was meant to contrast the excitement of „Stompin‘ For Mili.“ Brubeck recalls the recording of the piece in a 1955 letter:“ ‚I would like,‘ said Gjon [Mili], closing his eyes and raising his hand expressively, ‚I would like to see Audrey Hepburn come walking through the woods.‘ ‚Gee,‘ said Paul wistfully, ‚So would I.‘ ‚One,‘ I said, noticing the glazed expression about Paul’s eyes ‚two, three, four‘. And we played it. Hence, the title.“)

Das Album „Re-Union“ mit Brubeck, Desmond, dem alten Gefährten Dave van Kriedt am Tenor sowie Norm Bates und Joe Morello muss ich mir noch einige Male anhören… einiges darauf klingt mir zu arg nach Third Stream und West Coast, schon die Titel der Kompositionen lassen das erahnen: „Chorale“, „Prelude“ und „Divertimento“ finden sich da (ersteres beruht auf einem Bach-Stück, arrangiert hat van Kriedt, der ansonsten alle Stücke komponiert hat).
Das ist genau dieser verkopfte Westküstenjazz mit kompositorischen Ambitionen, wie ihn auch andere gemacht haben (Bob Cooper, Shelly Manne etc), aber viele von ihnen (gerade Manne) haben sich davon erfolgreich befreien können, während van Kriedt mit seinem Status als (höchstens) Fussnote des West Coast Jazz nicht so viel Glück beschieden war (nun gut, er lehrte und komponierte halt vor allem).
Das ist jedenfalls Thema für eine eingehendere Beschäftigung, die auch die Brubeck Oktett-Aufnahmen aus den späten 40ern berücksichtigen sollte.

Heute morgen habe ich mir zudem die beiden Fantasy-Alben mit Bill Smith an Desmonds Stelle angehört, „Brubeck a la Mode“ und „Near-Myth“. Erstaunlicherweise gefällt mir letzteres, das doch mit Stücken wie „The Unihorn“, „Bach an’all“, „Pan’s Pipes“, „Nep-Tune“ oder „Apollo’s Axe“ schlimme Befürchtungen weckt, ein gutes Stück besser – es wird befreiter aufgespielt, die Musik wirkt weniger durchorganisiert und komponiert. Auf „A la Mode“ spielt Smith (der auf beiden Alben die ganze Musik beigesteuert hat) mit Kirchentonarten (er nennt sie nicht so, aber fügt „E-E“ oder „G-G“ an, um zu zeigen, von welchem Grundton aus die weissen Tasten des Klaviers bedient werden müssen). Das ganze ist etwas steif geraten, aber hübsche Momente sind durchaus vorhanden. (Besternung geht noch nicht, aber die beiden dürften wohl ca. bei *** bzw. **** liegen.)

Nachdem ich mir die Diskographie etwas genauer angeschaut habe (auch aus Neugier, was denn um 1967 so lief bei Brubeck), merke ich, dass die neue Box mit den Studio-Alben des Quartetts (also jenes mit Desmond, Wright und Morello) durchaus attraktiv aussieht. Die enthaltenen Alben sind zwischen 1955 und 1966 eingespielt worden:
– Brubeck Time
– Jazz Impressions of the U.S.A.
– Jazz Impressions of Eurasia
– Dave Digs Disney
– Gone with the Wind
– Time Out!
– Southern Scene
– Bernstein Plays Brubeck Plays Bernstein
– Time Further Out
– Countdown: Time in Outer Space
– Bossa Nova U.S.A.
– Brandenburg Gate: Revisited
– Time Changes
– Jazz Impressions of Japan
– Jazz Impressions of New York
– Angel Eyes
– My Favorite Things
– Time In
– The Dave Brubeck Quartet Plays Cole Porter – Anything Goes!
http://www.popmarket.com/the-dave-brubeck-quartet-the-columbia-studio-albums-collection-1955-1966/details/25976005
Einige davon sind nie in Legacy-Ausgaben auf CD erschienen, gutes Vinyl ist wohl zu finden, aber bestimmt nicht billig. Und die ganzen PD-CDs gehen mir auf den Sack… auch wenn sie natürlich eine gute Möglichkeit bieten, die Musik mal kennenzulernen.
Ach ja, und weil ich da nirgens „West Side Story“ entdecken konnte, habe ich auch noch rausgefunden, dass die 80er-CD „The Dave Brubeck Quartet Plays Music from West Side Story And…“ eine Compilation ist. Das war mir bisher nicht bewusst. Die CD (auch LP, erschienenn beide 1986) enthält die Quartett-Hälfte von „Bernstein Plays Brubeck Plays Bernstein“, das später auch als „Music From ‚West Side Story‘ and Other Works“ aufgelegt wurde, sowie Stücke von „My Favorite Things“, „Angel Eyes“ und „Anything Goes“.

Ebenfalls erstaunt hat mich, dass von der Band, die Brubeck nur wenige Monate nach der Auflösung des Quartetts mit Desmond gegründet hat, kaum etwas in neueren CD-Ausgaben vorliegt. Derzeit läuft „Live at the Berlin Philharmonie“ in der phänomenalen 2CD-Ausgabe. Gerry Mulligan ist ein fast so perfekt geeigneter Partner für Brubeck wie es Desmond war. Zu diesem Zeitpunkt (1970) ist er schon ein alter Löwe (mit entsprechender Mähne) und sein Spiel hat viel mehr Saft als in frühen Jahren. Brubeck lebt förmlich auf, spielt im viertelstündigen „Things Ain’t What They Used to Be“ ein irrwitziges Solo, in dem er vom Ragtime zum freien Spiel findet – grandios! Begleitet werden die beiden vom soliden Bass Jack Six‘ sowie von Alan Dawsons manchmal etwas nervös-scheppernden Drums, die stets dafür sorgen, dass auch rhythmisch vieles am Laufen ist. (Was mich bei Dawson – auch auf den grossartigen Aufnahmen mit Booker Ervin – manchmal etwas stört ist sein hoher, leichter Sound… etwas mehr Dreck und Erde und Boden hätte nicht schaden können… er ist vielleicht manchmal zu sehr der Lehrer und zu wenig der Musiker. Aber egal: er ist sehr toll, das ist klar!)

Mit Mulligan, Six und Dawson war Brubeck schon im Frühling 1968 wieder on the road und spielte im selben Jahr die Columbia-Alben „Compadres“ und „Blues Roots“ ein, bevor mit dem grossartigen Konzert aus Berlin am 7. November 1970 die Columbia-Ära von Brubeck endgültig endet. In der Zwischenzeit waren – im ersten Fall ohne Mulligan – mit dem Cincinnati Brass Ensemble bzw. dem Cincinnati Symphony Orchestra schon die beiden Decca-Alben „The Gates of Justice“ und „Brubeck/Mulligan/Cincinnati“ eingespielt worden. Einer der Gründe, warum er die Band auf löste – der andere war, mehr Zeit für die Familie zu haben – war ja, dass Brubeck sich mehr aufs Komponieren konzentrieren wollte.

Nochmal zu Berlin: Das Album erschien in Europa als 2LP-Set (11 Tracks), in den USA nur als einzelne LP (5 Tracks). Erst auf dem 2CD-Set von 1995 ist das vollständige Konzert mit den beiden eröffnenden Nummern „Out of Nowhere“ und „Mexican Jumping Bean“ zu hören. Brubecks Band kriegte Ende der 60er keine Aufmerksamkeit der Presse, das Publikum in Berlin war wohl viel mehr an Sun Ra, Charles Mingus und anderen entschieden abenteuerlichen Bands interessiert… Brubeck schreibt in seien neuen Liner Notes von 1995: „In effect, we were the ’sleeper‘ combo.“

I recall that energy was running high. The piano on stage had had a lot of usage during the festival and there was no opportunity to tune it before I played. Instead of being defeated by the situation, I decided to tune in to that high energy. Although the spontaneous response you hear from teh audience was happening wherever Gerry and I had played, even at rock festivals, it went mostly unnoted by the press and the record industry. So our performance came as a complete surprise to these Berliners. The Berlin Jazz Festival audience, reputedly the toughest in the world, became so excited as teh evening progressed that we had difficulty drawing the concert to a close.

Brubeck erzählt, wie nach „Basin Street Blues“ der Organisator zu ihnen gekommen sei und gemeint habe, das Festival habe bereits die Zeit überzogen, sie dürften keine weitere Zugabe mehr geben. Das Publikum insistierte (man kennt die alten Aufnahmen… mit denen war nicht zu spassen!) und die Gruppe spielte eine kurze Version von „Take Five“ – ohne Schlagzeug-Solo. Dann verschwanden sie, zogen sich um… und der Manager kam nochmal: „You must go back and play something. They will not leave the auditorium.“ – Und die Gruppe kehrte zurück und spielte ein sanftes „Lullaby of Mexico“ zum Ausklang.

Was „Take Five“ ohne Drum-Solos betrifft: das kam praktisch nicht vor, da Desmond das Stück ja als Drum-Feature rasch skizziert hatte, als die Band „Time Out“ einspielt… aber auch auf „Their Last Time Out“ ist Morello nicht mit einem Solo vertreten, da unmittelbar davor sein „For Drummers Only“ gespielt wird (das allerdings auch ein langes, tolles Brubeck-Solo enthält).

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 - 19.12.2024 – 20:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba