Re: Musiksendungen im TV

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annamax

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Der Sender ZDFkultur scheint für öffentlich-rechtliche Verhältnisse ganz interessant zu sein.

Musik-TV auf ZDFkultur
Pop-Perlen vom 50-Plus-Sender

Von Felix Bayer

Macht verdammt noch mal Krach! Nach dem Relevanzverlust von MTV versucht ausgerechnet das ZDF die Popmusik fürs Fernsehen zu retten: Im jüngst gestarteten Digitalsender ZDFkultur laufen erstaunlich spannende Musikformate – allen voran das intime Songwriter-Stelldichein „TV Noir“.

Welches war das erste Video, das auf MTV lief? Mit dieser Frage würde man wohl den Teilnehmern eines Popquiz‘ nur ein müdes Lächeln entlocken: Natürlich, „Video Killed the Radio Star“ von den Buggles, was denn sonst. Doch wird man sich in ein paar Jahren noch daran erinnern, womit ZDFkultur am 7. Mai anno 2011 um 6.30 Uhr den Sendebetrieb aufgenommen hat? Jedenfalls dürften die Redakteure des Digitalsenders es ähnlich programmatisch gemeint haben wie die von MTV 1981: Es war der Musikclip zu „Make some Noise“, der neuesten Single der Beastie Boys. Internet rettet Videostars?

Mit ziemlich viel Noise, mit großen, krachenden Worten nämlich, wurde ZDFkultur annonciert. ZDF-Intendant Markus Schächter, sonst nicht unbedingt ein Kenner von Indierock und Dubstep, sprach davon, dass der neue Kanal die „Versöhnung zwischen Feuilleton und Popkultur“ anstrebe – außer Acht lassend, dass die Popkultur spätestens seit den Neunzigern mehr oder weniger stark den Einzug in die Zeitungsfeuilletons geschafft hat. Darüber hinaus will ZDFkultur aber nicht nur Kultur abbilden, „sondern wir wollen selbst auch kulturelles Ereignis sein“, so ZDF-Kulturkoordinator Wolfgang Bergmann.

ZDFkultur tritt an die Stelle des Theaterkanals, der seit 1999 sendete, dessen Marktanteil aber nur im Promillebereich zu messen war. Den breit aufgestellten Kulturbegriff zeigt – etwas angestrengt mit „netzig“ gedachten Punkten – die Selbstbeschreibung als „Pop.Hoch.Netz.Digital.Kultursender“.

Aber was heißt das genau? Das Theaterkanal-Magazin „Foyer“ wird ersetzt durch den von der Schauspielerin Pegah Ferydoni moderierten „Kulturpalast“, es gibt ein Videospiel-Magazin namens „Pixelmacher“ und täglich zur „Tagesschau“-Zeit den „Marker“, eine etwas unter dem von „Polylux“ und ähnlichen Fernsehen-für-junge-Leute-Formaten berüchtigten Originalitätszwang leidende Überblickssendung – die aber auch durchaus zu überraschen vermag: Am Mittwoch spielten zwei Moderatoren eine Viertelstunde lang Max Frischs „Biedermann und die Brandstifter“ mit Barbie-Puppen nach.

Famoser Flow bei Flaschenbier

Doch eine sehr große Rolle spielt im Programm von ZDFkultur die Musik, vor allem Popmusik – auch so ist das „Make some Noise“ zum Start zu verstehen. Und das Interessante: Die Pop-Initiative aus dem eher für Leute über 50 konzipierten Mainzer ZDF funktioniert. Im Sommer sollen zehn Festivals live übertragen werden, außerdem präsentiert man Konzertmitschnitte und verdienstvolle britische Programme wie „Later with Jools Holland“.

Vor allem aber ist die Musik der Bereich, in dem Schächsters Versprechen, „selbst kulturelles Ereignis“ zu sein, eingelöst werden soll: In einem Berliner Transformatorenwerk und auf der Dessauer Bauhausbühne inszeniert der Sender Konzerte im relativ großen Stil – zum Debüt von „Berlin live“ spielten die Schwedenrocker Mando Diao, „ZDF@bauhaus“ startet am Samstag mit einem Auftritt des Kölner Reggae-Stars Gentleman.

Spannender sind allerdings die kleineren Formate. Aus einem Keller in Berlin-Weißensee wird „On Tape“ gesendet, das mit einem Auftritt des aufstrebenden Bielefelder Rappers Casper debütierte. Bei der in Kooperation mit dem Internet-Video-Kanal tape.tv produzierten Show wird der musikalische Gast zwischen seinen Songs bei Flaschenbier interviewt, wobei Fragen auch von den Zuschauern des Livestreams im Netz gestellt werden – Casper ging gleichermaßen aufgekratzt und souverän mit den Fragen des Moderators Rainer Maria Jilg um, der seine Rolle zwischen cooler Abgeklärtheit, Debütaufregung und kumpelhaften Banalitäten noch etwas suchte. Und was bei Musik im Fernsehen immer noch keine Selbstverständlichkeit ist: Seine Songs klangen sehr gut.

Leichter auszusteuern sind in aller Regel die Gäste der Show „TV Noir“, die am Freitag bei ZDFkultur debütiert. „Wohnzimmer der Songwriter“ nennt sich die Sendung im Untertitel, und so hat man es meist zu tun mit jungen (oder auch nicht mehr ganz so jungen) Männern, die zu Akustikgitarren in deutscher Sprache Lieder singen von der Sehnsucht, der Liebe und den Verhältnissen – aber immer eine verschrobene Formulierung entfernt von allen Deutsch-Rock-Klischees.

Romantik via Internet

Gisbert zu Knyphausen, Bosse oder Philipp Poisel sind typische Vertreter einer immer sehr romantisch und mit großem Herzen, aber auch absichtsvoll mit kleinen Gesten daherkommenden Musik, die bei „TV Noir“ ein Fernsehrefugium gefunden hat – und das schon seit zwei Jahren. Denn „TV Noir“ gibt es schon seit 2009 im Internet, gleich im ersten Jahr ihres Bestehens war die Sendung denn auch für einen Grimme-Online-Award nominiert.

Die in schwarzweiß aufgenommenen Shows aus dem Berliner Heimathafen Neukölln haben jeweils zwei musikalische Gäste, die Songs vor einem bemerkenswert andächtig lauschenden Publikum spielen und sich zwischendurch Talk- und Spielrunden mit dem Moderator Christoph „Tex“ Drieschner stellen müssen – wobei der aus Starnberg stammende Tex ein äußerst verständnisvoller Gastgeber ist, schließlich ist er selbst Songwriter und eröffnet den Abend stets mit dem zur Akustischen gesungenen Lied „Die Leute vom Fernsehen“.

Mit Tex‘ unerschütterlicher Freundlichkeit und der Akribie, mit der die live gespielten Songs in Szene gesetzt werden, präsentiert „TV Noir“ Musik in einer im Fernsehen selten gesehenen Seriosität – und schafft es dabei, dennoch für die Zuschauer unterhaltend zu sein. Für das Debüt im „richtigen Fernsehen“ werden mit Annett Louisan und der Kölner Folk-Popsängerin Polyana Felbel zur Abwechslung mal zwei Frauen erwartet. Diese monatlich aufgezeichnete Sendung ins Programm zu nehmen, ist ein schlauer Zug von ZDFkultur – und es soll kein Einzelfall bleiben. Auch andere Formate, die sich im Internet oder in Regionalsendern etablieren, könnten folgen, sagen die Programmmacher.

ZDFkultur könnte sich so als Talentschmiede für die öffentlich-rechtlichen Sender erweisen, ein bisschen so wie die U23-Teams der Fußball-Bundesligateams. Der Kölner Musiker Martell Beigang hat unlängst einen Roman namens „Zu Gast im eigenen Leben“ veröffentlicht, in dem der Protagonist versucht, mit einer Internet-Video-Reihe seine Ex-Freundin zurückzugewinnen, die irgendwo auf der Welt unterwegs ist. Die Videos finden immer mehr Fans im Internet, so dass schließlich ProSieben zuschlägt und die Show ins Fernsehen bringt. Das ist der Roman. Im wirklichen Leben wäre es in Zukunft wohl ZDFkultur.

Mit Formaten wie „On Tape“ oder „TV Noir“ könnte es also gelingen, ZDFkultur ein eigenes Profil zu geben in der recht engen Nische zwischen Arte, 3sat und dem erst vor wenigen Monaten gegründeten Kanal ZDFNeo. Dann blicken wir auch gnädig über die Marotten und Manierismen mancher „Marker“-Moderator hinweg.

„TV Noir“: freitags, 23.00 Uhr, ZDFkultur. Über den Rest der vorgestellten Sendungen informieren Sie sich bitte unter: kultur.zdf.de

Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/tv/0,1518,763702,00.html

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I'm pretty good with the past. It's the present I can't understand.