Re: Andrew Hill

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gypsy-tail-wind
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Im Juni 1964 nahm Hill zum fünften Mal für Blue Note auf. Das Album erhielt die Katalog-Nummer 84203, was darauf hinweist, dass es irgendwann Anfang 1966 hätte veröffentlicht werden sollen – es erschien aber erst zwei Jahre später.
Mit Joe Chambers war ein neuer Drummer dabei, der auch auf den beiden nächsten Sessions mit Hill spielen sollte – ein Schlagwerker, der selber auch Komponist war, der sehr strukturiert und musikalisch begleitet, auf eine viel feinere Weise als die Schlagzeuger auf den vorangegangenen vier Sessions. Die Musik kriegt dadurch – und durch die Rückkehr von Bobby Hutcherson – eine ganz andere Prägung, sie wird klarer, heller. Dagegen spielt allerdings John Gilmore mit seinem kantigen und etwas dunklen Tenorsax an, ebenso natürlich Hill selbst. Richard Davis ist nach wie vor am Bass, und schon in den ersten Takten dieser Session wird wieder einmal deutlich, wie prägend er für die frühe Musik Hills gewirkt hat mit seinem unglaublich flexiblen und dennoch erdigen Spiel.
„Black Monday“ heisst die Ballade, mit der die Session öffnet, sie wird über einen einigermassen festen Beat gespielt, aber Hill und Chambers spielen dauernd mit dem Beat. Die Komposition besteht aus 23 Takten: A (5 Takte), B (6 Takte), A (5 Takte) und B1 (7 Takte). Hutcherson und Gilmore solieren über einen Durchgang, Hill kriegt zwei. Gilmores Solo ist expressiv aber fragmentiert, Cuscuna meint in den Mosaic-Notes, „as if not yet sure how to deal with Andrew’s style of writing“. Auf mich klingt sein Solo hier auch ein wenig unsicher – als ginge ihm auf halbem Weg die Puste aus, worauf er sein vorhin stringentes Solo abbricht und es mit repetitierten Motiven und Trillern beendet – keineswegs schlecht, allerdings, allein sein robuster Ton bringt eine neue Qualität in Hills Musik.
„Symmetry“ ist das zweite Stück, wir hören es in zwei Takes, zuerst im Master, dann im kürzeren Alternate Take. Es wird im 4/4-Takt gespielt, aber die rhythmischen Akzente verschieben sich fortwährend, was dem Stück trotz dem mittelschnellen Tempo eine Nervosität verleiht. Hill, Chambers, Hutcherson .und Gilmore solieren. Hills Solo im Master ist von einer grossen Klarheit, Chambers spielt, wie man sich einen „denkenden“ Drummer vorstellt, äusserst musikalisch und ohne das Geschehen je übermässig zu dominieren. Gilmore scheint sich besser in die Musik einzufühlen, sein Solo passt jedenfalls hier perfekt ins Geschehen! Der Alternate Take bringt nicht viel neues, ausser dass Hill im Schlagzeugsolo stärker präsent ist. Das Tempo ist etwas schneller, was dem Stück nicht wirklich entgegenkommt.
Weiter geht’s mit einem tollen Quartett-Stück (ohne Gilmore) in zwei Takes, „Griots“. Hill und Davis sind die Solisten und wieder hören wir zuerst den Master Take. Der Alternate Take ist schneller und eine Minute kürzer. Auf beiden Takes glänzt Joe Chambers mit seiner einfühlsamen und enorm gekonnten Begleitung, deren Facettenreichtum man oft erst beim mehrfachen Hinhören erkennen kann (das gilt ja generell für alles, was ich von Andrew Hill kenne – ich höre auch all die Aufnahmen, über die ich hier schreibe, mindestens vier bis fünf mal, bevor ich dann was schreibe).
Im 13-taktigen Thema „Duplicity“ ist Gilmore von anfang an sehr präsent, das Stück besteht aus einem A-Teil (6 Takte) und einem B-Teil (7 Takte), der zweimal gespielt wird. Gilmore übernimmt das erste Solo und sein Mix aus Linien, kurzen Motiven, scheinbar endlosen Repetitionen und Ausbrüchen passt wunderbar, bis dahin sein stärkstes Solo! Auch Chambers‘ Begleitung hilft, dass die Musik hier so zerklüftet klingt wie selten zuvor. Davis spielt das zweite Solo, zurückhaltend von Hill und Chambers begleitet. Hills eigenes Solo bewegt sich wieder zwischen Linien und Brüchen, ist von einer zarten Bitterkeit.
„Le serpent qui danse“ ist ein auf den ersten Eindruck bizarres Stück, das aus zerklüfteten Phrasen über dem hin und herspringenden Bass Davis‘ besteht… sich dann aber als 12-taktiger Blues entpuppt. Hill soliert zum Auftakt und zum Ende und sprüht vor Ideen. Chambers‘ Begleitung ist auch hier wieder ausserordentlich, wie er mit dem Metrum umgeht, wie er sich mal aggressiv in die Musik einmischt, dann wieder sehr zurückhaltend und fein ziseliert spielt. Auf Hill folgt Hutcherson mit einem rasanten Solo, danach ein kerniges Solo von Gilmore, bei dem Chambers wieder richtig aufdreht. Gilmore bläst auch hier ein überzeugendes Solo, jedenfalls gefallen mir seine Beiträge insgesamt sehr gut! Chambers folgt mit einem kurzen Solo, bevor Hill sein zweites Solo spielt und dann ins abschliessende Thema überleitet.
Die Session endet mit „No Doubt“, einer zarten Rubato-Ballade. Das Thema wird vom Quintett präsentiert, Gilmore bläst verhalten die melancholischen Linien, dann soliert Hill einmal durch die Form, nur vom sehr zurückhaltenden Chambers begleitet.


Bobby Hutcherson & John Gilmore (Photo: Francis Wolff)

Über die Anwesenheit von Gilmore kann ich leider nichts sagen… es ist ja bekannt, dass Sun Ra sehr aufmerksam über die Tätigkeiten seiner Sidemen wachte und wohl vieles verhindert hat – was gerade im Fall von Gilmore enorm schade ist, da es sich bei ihm um eine der vielleicht zwei Dutzend individuellen Tenorstimmen handelte, die sich in der zweiten Hälfte der 50er neben und zwischen Coltrane und Rollins herausbildeten.

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