Re: Andrew Hill

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Hills anerkanntestes Meisterwerk überhaupt ist wohl sein Blue Note Album #4 – veröffentlicht als #3 im April 1965. Besonders erwähnenswert ist die Anwesenheit von Eric Dolphy – er war wie Hill einer der grossen Suchenden der 60er Jahre, bewegte sich irgendwo zwischen Hardbop und der Avantgarde, mit Einflüssen von Mingus bis George Russell (mit beiden hat er auch gespielt). Das Rhythmusgespann von Richard Davis/Tony Williams hatte übrigens einen Monat zuvor gemeinsam mit Bobby Hutcherson (und Freddie Hubbard, der später auch noch bei Hill auftauchen sollte) auf Dolphys meisterhaftem „Out to Lunch“ mitgewirkt.

Hill über Dolphy:

„Eric was so important because, while a lot of people are becoming individuals, he’d already developed his individuality. He’s another one, like Kenny [Dorham – gtw], who maybe didn’t get all the attention he deserved because he was such a sweet, beautiful person. People tend to take kindness for weakness because they don’t know that an artist – a real artist – can afford to be kind because he can’t be bothered with petty thoughts.“

~ Andrew Hill, zit. nach Nat Hentoffs Liner Notes zu BST 84167

Hentoff hat Hill in seinen Notes ausführlich zitiert:

„I selected the men because of the particular strengths each has. I also selected them because I think they feel as I do that there’s no point in being different for the sake of being different. Difference has to come out of musical reasons; and also, anything ’new‘ has to evolve out of the old. Now Tony was important because of his extremely free sense of time. Kenny, I consider the most underrated player in the business. His problem is that he’s so nice, and people seem to associate greatness with meanness or bitterness. In this business, you have to create some kind of angry or tough image of yourself to be accepted, and therefore, too many people take Kenny for granted. he told me he liked this date so much because it made him think and play in new directions and in the process he proved again how musical and flexible a trumpet player he is.
„Joe Henderson is going to be one of the greatest tenors our there. You see, he not only has the imagination to make it in the avant-garde camp, but he has so much emotion too. And that’s what music is – emotion, feeling. Joe doesn’t get into that trap of being so technical that emotions don’t come through.
„As for Richard Davis, he is the greatest bass player in existence. Most good bass players have one thing going for them. A man may walk a good line, but his intonation may leave something to be desired. A very good bass player may have two things going. he may have good intonation and walk well, but if you ask for octaves and double stops, technical limitations show up. Another bass player may read real good, but have no imagination. But Richard, he can do anything you demand of him. He has a lot of technique, but his technique does not overpower his imagination. So what I often do with him is to write out what amounts to a piano part and let him pick the notes he wants to use.“

~ Andrew Hill, zit. nach Nat Hentoffs Liner Notes zu BST 84167

Sehr interessant ist auch, was Hill zu Tony Williams‘ Rolle in dieser einmaligen Gruppe zu sagen hatte:

„Because of Tony Williams being on the date, I was certainly freer rhythmically. And the way I set up the tunes, it was more possible for the musicians to get away from chord patterns and to work around tonal centers. So harmonically too, the set is freer.“

~ Andrew Hill, zit. nach Nat Hentoffs Liner Notes zu BST 84167

Ich habe diese Zitate nicht nur deshalb abgetippt, weil ich Hills Kommentare zu Davis oder Dorham sehr interessant finde, sondern auch deswegen, weil sie sehr viel über Hills eigenes Verständnis von Musik aussagen – dass eben Technik nie VOR die Emotionen und Gefühle, vor die Vorstellungskraft treten soll zum einen, zum anderen finde ich den Zusammenhang zwischen Rhythmik und Harmonik sehr spannend, den Hill um Williams‘ herum festmacht.

In der Tat klingt diese Gruppe loser, freier, weniger stark organisiert und an Formen gebunden als jene auf den drei vorangegangenen Blue Note Sessions.
Das erste Stück, „Refuge“, besteht aus zwei 12-taktigen Teilen und wird über einen schnellen 12/8-Beat gespielt. Williams‘ fliessender Swing ist sofort zu spüren. Die Bläser sind wunderbar gesetzt, mit kleinen Verschiebungen… Dolphys Alt trägt mit Hills rechter Hand die Melodie, Dorham umspielt, Henderson legt tiefere Linien darunter, die manchmal fast nach Bassklarinette klingen. Alle sechs Musiker sind als Solisten zu hören, Hill eröffnet mit einem lyrischen, luftigen Solo, gefolgt von Dolphys quirligem Alt, das hier aussergewöhnlich schwer klingt und immer wieder ans untere Ende des Instruments zurückkehrt – ein wunderbares Solo! Williams und Davis brechen die Begleitung auf, lassen den Rhythmus zucken und stottern… Es folgt Kenny Dorham mit einem sehr lyrischen Solo. Ohne laut zu werden steigt er auch mal in die hohen Lagen auf, hängt rasante Linien an langsame Passagen an, moduliert… ein sehr „sprechendes“ Solo. Davis folgt mit einem kurzen Solo, dann hebt Joe Henderson ab, während Hill streckenweise ganz aussetzt und Davis/Williams wieder intensiv mit dem Rhythmus spielen. Williams‘ abschliessendes Solo schliesslich wird von Davis begleitet.
Es folgt der Alternate Take von „Dedication“, einer 14-taktigen Ballade in drei Teilen: A (6 Takte), B (6 Takte), C (2 Takte). Das Stück sollte ursprünglich „Cadaver“ heissen, eine Art „death march“ zu schreiben sei seine Absicht gewesen, so Hill gemäss Hentoffs Notes: „At one point, Kenny, after playing that wah-wah section of his part, said it brought tears to his eyes. Well, that was what I was writing about. I wanted something that would fit a death march.“ Dorham trägt die Melodie vor, Henderson spielt eine zweite Stimme, während Dolphys Bassklarinette in wilden Linien umherspringt. Dolphy bläst dann auch das erste Solo – wie er seine Virtuosität mit einer balladesken Stimmung verbinden kann ist immer wieder eindrücklich zu hören. Hills Piano-Solo wird teilweise von den Bläsern begleitet, Davis‘ hohe Pedal Points schaffen eine sehr spezielle Atmosphäre. Alfred Lions Notizen in den Session Logs weisen darauf hin, dass er daran dachte, Henderson Solo aus dem Alternate Take in den Master hereinzukopieren – was er aber nicht gemacht hat. Hendersons Solo ist in der Tat hervorragend!
Der folgende Master Take ist ein wenig schneller, läuft nach dem gleichen Modell ab, aber Dolphys Solo ist völlig anders – und viel weniger bewegt und toll als das auf dem Alternate Take. Henderson spielt zwar auch hier ein schönes Solo, aber ich schliesse mich Michael Cuscunas Bemerkung in den Notes zum Mosaic-Set an, dass der Alternate Take zu bevorzugen ist.
Es folgt „New Monastery“, auch das in zwei Takes, dieses Mal zuerst der Master, dann der Alternate Take. Das Stück besteht aus 22 Takten in zwei Teilen: A (9 Takte) und B (9 + 4 Takte). Dorham bläst das erste Solo, suchend, lyrisch bläst er sich durch die ungewohnte Musik, mit toller Begleitung von Hill, Davis und Williams. Dann folgt Dolphy mit einem süffigen Altsolo, weniger kantig und sprunghaft, über weite Teile fast linear – zumindest für seine Verhältnisse. Williams bricht unter ihm den Rhythmus auf. Hill folgt – seine Soli sind zu diesem Zeitpunkt zwar immer noch mit dem einen oder anderen Lauf gefüllt, unterscheiden sich aber oft gar nicht so sehr von dem, was er als Begleiter unter den anderen Solisten spielt – er lebt in seiner Musik, flicht das Thema in sein Solo ein, spielt mit den Rhythmen, den Motiven, setzt Akkorde, und streut zwischendurch eben auch mal perlende Läufe ein. Sehr toll, wie Davis auf sein Solo reagiert, seinen Walking Bass leicht abgehackt phrasiert. Das zieht sich in den Anfang von Hendersons Solo weiter, das verspielt ist aber auch etwas düster, aus kurzen Motiven konstruiert wird, mit Wiederholungen und Trillern gespickt. Davis folgt mit einem kurzen Walking Solo, zum grossen Teil unbegleitet, dann übernimmt Williams, auch für ein kurzes unbegleitetes Solo. Dann folgt das Thema, geprägt vom Sound Dolphys.
Der folgende Alternate Take wird etwas schneller gespielt – zu schnell wohl. Dolphy bläst aber ein grossartiges, bewegtes und abenteuerliches Altsolo, das diesen Take sehr wohl hörenswert macht!
„Flight 19“ folgt, wieder in zwei Takes. Das kurze Stück besteht aus 16 Takten, gruppiert in 4 schnelle, 2 langsame, 8 schnelle und 2 langsame. Zuerst hören wir den etwas kürzeren, schnelleren Alternate Take. Dolphys Bassklarinette prägt den Gruppensound, Dorhams spitze Trompete präsentiert das Thema. Hill übernimmt das erste Solo, mit dichten Bläser-Begleitung – Riffs in den schnellen Teilen, frei improvisierte Passagen in den langsamen – und der fortlaufenden Tempo-Struktur, die zu einer Art Stop-and-Go wird. Der zweite Solist ist Davis, die Begleitung ist dieselbe mit den Bläsern, Hill hält sich allerdings fast ganz raus und Williams spielt eine sehr leise und feine Begleitung.
Im Master, dem 19. Take (daher der Titel „Flight 19“) improvisieren die Bläser über den Soli nur noch in den langsamen Teilen und setzten während den schnellen Teilen aus – das verstärkt den Stop-and-Go Effekt und lässt zugleich mehr Raum für Hill und Davis.
Das letzte Stück der Session ist „Spectrum“, eine Suite, die ursprünglich mal „Kaleidoscope“ hiess. Hill kommentierte es in Hentoffs Notes wie folgt: „In terms of structure, every solo is based one way or another on elements in my eight bar piano solo. And that breaks down into four bars of 4/4, one bar of 5/4, two bars of 3/4 and one bar of 4/4. As for the different emotions, to give you some examples, Kenny’s solo indicates searching, Eric’s alto solo might be considered peaceful – but with a shadow of a doubt. And the 5/4 section in which Eric, Kenny and Joe play has such anguish in it.“ Wir hören im ersten Teil das Thema und Hills Solo, dann künden Williams‘ Drums den 5/4-Teil an, in dem Dolphy (Bassklarinette), Dorham und Henderson alle solieren und sich gegenseitig dabei begleiten, gefolgt von einem Bass-Solo, das in einen freien dritten Teil überleitet, in dem Dolphy am Altsax und Hill zu hören sind. Dann künden Dolphy und Henderson beide an der Flöte das Trompetensolo an, für das sich der Beat wieder verfestigt. Nach einem Schlagzeugsolo folgt nochmal das Thema.

Dieses Album wird wohl zu Recht als ein Meilenstein gefeiert. Wir hören hier den grossen Eric Dolphy auf der Höhe seines Könnens, kurz vor seinem viel zu frühen Tod, und wir hören vor allem Hills grosses Können als Komponist, seine tollen Arrangements für drei Bläser. Eine weitere Sextett-Sessions mit drei Bläsern von 1970 sind im Mosaic Select #16 zu finden, ebenda ist auch eine 1967er Septett-Session zu finden, 1969 entstand zudem die als „Passing Ships“ veröffentlichte Session mit einem Nonett – mit dem Erscheinen dieser Aufnahmen wurden Hills diesbezügliche Fähigkeiten dokumentiert, damals war jedoch „Point of Departure“ das einzige Beispiel.

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