Re: Andrew Hill

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gypsy-tail-wind
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Fünf Wochen nach der Aufnahme von Black Fire war Hill schon wieder im Studio von Rudy Van Gelder. Das Album, das am 13. Dezember 1963 aufgenommen wurde, erhielt den Titel Smokestack. Es erhielt die Katalog-Nummer BLP 4160, erschien aber erst 1966 (seltsamerweise war es neben Hank Mobleys „Dippin'“ unter den ersten paar Alben, die Liberty herausgab, nachdem es Blue Note gekauft hatte).
Richard Davis und Roy Haynes sind wieder dabei, das Quartett wird von Eddie Khan vervollständigt. Khan hatte sich in den Jahren zuvor einen Namen gemacht durch sein Spiel mit Jackie McLean, Max Roach und Fddie Hubbard. Zudem hatte er mit Hill auf Joe Hendersons „Our Thing“ mitgespielt. Er übernimmt meist die Anker-Rolle und lässt Davis grossen Raum, die Musik solistisch zu ergänzen. Die Musik ist generell noch ein ganzes Stück komplexer als auf dem Debut-Album.
Das Titelstück beginnt mit 4 Takten Drums, dann 7 Takte Bass, danach folgt das Thema: A (8 + ( Takte), B (9 + 8 Takte), C (8 Takte), A1 (9 Takte). Die Abschnitte sind sich ähnlich, lösen sich aber jeweils anders auf. Hill soliert über der kompletten Form, spielt drei Durchgänge. Die Soli auf dem Alternate und dem Master Take sind dabei völlig verschieden und beide voll mit frischen Ideen, was bei dieser Musik äusserst bemerkenswert ist!
In „Wailing Wall“ klingt Hills Spiel nahezu klassisch, darunter treibt Haynes mit raschen Triolen gegen den getragenen 4/4-Puls… Davis spielt anfangs mit dem Bogen, wechselt dann zwischen arco und pizzicato ab. Die Form ist ABCA, wobei C 6 Takte umfässt, die anderen Teile 8-taktig sind. Lion nannte das Stück in seinen Notizen „the tune with bass bowing, crying“ – eine sehr schöne Umschreibung. Sehr dramatische Musik.
„Ode to Von“ präsentiert Khan als Solisten. Das Stück ist Von Freeman gewidmet, ein einigermassen konventioneller 4/4-Rhythmus prägt das Stück, die Struktur ist allerdings komplex… A (7 Takte + 2 Takte im 6/4), B (4 Takte), C (4 Takte), A (auf 10 Takte ausgedehnt). Hills Spiel ist reich an Energie, Khan soliert solide mit seinem festen Ton, am Ende tauschen Hill und Haynes Fours und Twos. Im folgenden Alternate Take spielen die beiden nur Fours und Hills Solo ist länger.
Auch vom nächsten Stück, „The Day After“, existieren zwei unmittelbar nacheinander gespielte Takes. Wieder ist der erste zum Master erkürt worden. Das Stück besteht aus 8-taktigen Teilen, die sich als ABABCA zu einer 48-taktigen Form zusammensetzen. Davis begleitet sehr aktiv, Haynes hält sich hier wie über die ganze Session über recht zurück, sein rhythmischer Impetus ist ständig zu spüren, aber nie aufdringlich. Im Alternate Take spielt Hill akkordischer und der Rhythmus wirkt gebrochener, zerklüfteter.
„Verne“ ist eine wunderschöne Ballade, Hills Frau gewidmet. Eddie Khan spielt hier nicht mit, Richard Davis glänzt um so mehr – grossartig, was er hier spielt! Das Stück beginnt in 3/4 und wechselt in der Bridge und fürs Piano-Solo in 4/4, die Struktur ist ABACA.
„Not So“ beruht auf einer A-A1-B-Struktur, in der B nur 6 Takte hat. Die Melodie wird zweimal gespielt, dann folgen Davis mit einem, Hill mit fünf und Haynes mit einem Durchlauf. Wieder sind nacheinander zwei Takes eingespielt worden, dieses Mal ist zuerst der Alternate Take entstanden. Im Master gelingt das Zusammenspiel besser und Hills Solo klingt stark nach Monk.
Zum Abschluss folgt das swingende, bluesige „30 Pier Avenue“, ein 16-taktiges Stück mit einer AB-Struktur. Hill spielt zwei Chorusse, dann folgt Khan mit einem, dann Hill/Davis für einen, wieder zwei von Hill und zum Ende Khan/Haynes für einen.
Die Session wirkt auf mich insgesamt zwingender, geschlossener als das Debut-Album. Zugleich ist die Musik sperriger, komplexer, an der Oberfläche weniger abwechslungsreich und weniger direkt ansprechend was den Klang der Gruppe betrifft, wenn man aber davon absieht und sich in die Musik versenkt, eintaucht in diese so eigene Klangwelt, dann gehört sie für mich zu den schönsten von Hills Aufnahmen, es gibt sehr viel zu entdecken, die Musik ist facettenreich und enorm atmosphärisch.

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