Re: Kriterien der Jazzkritik

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tejazz

Registriert seit: 25.08.2010

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Nicht immer werden auch Innovationen als solche hinreichend von den Kritikern zum Zeitpunkt des Entstehens/Auftretens hinreichend gewürdigt.
Andererseits findet man, wenn man alte Hefte des Down Beat durchblättert, auch durchnittliche Kritiken zu Platten, die heute viel besser bewertet werden.
Manches braucht seine Zeit, manches ist zu „altmodisch“ für seine Zeit und wird erst nach Jahren oder Jahrzehnten neu bewertet.

Anfangs hielt ich mich, neben den Ratschlägen eines guten Freundes, am Allmusic Guide fest. Als ich ihn dann im Internet entdeckte (und es vielleicht auch keine neuere Buchauflage gab?) und ich weitere Musiker bzw. Platten entdeckte hatte, stieß ich darauf, daß der bis dahin von mir geschätzte Scott Yanow mitunter CDs nach Laufzeiten (mit-)bewertete. Wenn dieseselben Aufnahmen in Kopplung einer weiteren, mitunter auch schwächeren Aufnahmesession (wie auch immer) erschien, ging die Wertung oft um einen Stern nach oben. Manchmal wies er direkt auf geringe Laufzeit, aber ausgezeichnete Plattenaufnahme hin (Savoy/Denon? recht häufig). Kurios war/ist, daß einige der Platten im AMG von ihm anders bewertet wurden als beispielsweise in seinem BEBOP-Buch (welches ich sehr schätze).
Ich habe damals ein paar mails dorthin gesendet, um das für mein Verständnis erklärt zu bekommen, aber habe nie eine Antwort bekommen.

Das als Beispiel, wie sich Kritiker verhalten. Was geht mich mein Geschreibsel von gestern an?

Und, ja, Lockjaw Davis war einfach ein sehr guter Handwerker. Kein Davis, Dolphy oder Coltrane. Aber ein sehr solider, aus der Hawkins-Linie stammender Tenorist mit R&B-Note.
Und drei Sterne sind gut!

In vielen älteren Nachschlagewerken gab es nur „glatte“ Sterne, keine halben.
Wenn sowas irgendwann mal abgepinselt und ins Internet gestellt wird, gibt es vielleicht auch keinen „Nachschlag“ um einen halben Stern, weil man die ganzen Platten vorher einfach nicht nochmal hören konnte. Auch der Unterschied zwischen Down Beat 50-er und 60-er Jahre und dem AMG ist oft beachtlich.
Und im AMG fiel mir auch auf, daß ein MOSAIC-Set (z.B. Buddy DeFranco mit Sonny Clark) höher bewertet wird als die Einzel-LPs. Da gibt es dann wohl einen Komplettierungsbonus.

Und wer schon ca. 10.000 LPs und mehr gehört hat, weiß zwar oft, welche Platten schlecht bzw. überragend waren, aber das Mittelfeld, die fünfte oder zehnte LP von Lockjaw Davis, ist nicht mehr so präsent. Er weiß, daß der Kerl gut war, aber ihm gefällt das mit der Orgel nicht. Solide Arbeit, keine Zeit, die Platte aufzulegen. Jimmy Smith war an der Orgel besser als Shirley Scott. Kann nicht besser als 3 Sterne sein.
Das sind auch nur Menschen.

Und wer will nur Musik hören, die eine hohe Sternchenanzahl von irgendjemanden bekommen hat? In unserem Jazzkreis muß man nur begründen, warum man Titel/Musiker nicht mag. Da sind schon Leute bei, die sich professionell mit Jazz beschäftigen. Aber es macht auf Dauer wenig Spaß, die Musik zu zerreden. Deshalb obiger Konsens. Wobei ja immer gern gehört wird, wenn ein Fachmann Ausführungen zu besonderen leistungen der Musiker usw. macht.

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