Re: Jazz-Glossen

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gypsy-tail-wind
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Zu den „Licks“:

FefWenn zum Beispiel Charlie Parker ein Stück spielt, dann stellt er zunächst das Lied vor, aber dann variiert er das Lied in seinen Improvisationen nicht, sondern macht aus dem Akkord-Gerüst des Songs rhythmisch-harmonische Patterns (rhythmisch, weil die Akkord-Wechsel kurze zeitliche Einheiten bilden und insgesamt Zyklen ergeben). Und zu diesen Patterns bewegt er sich in Form von melodisch-rhythmischen Linien (Coleman dreht es um und sagt „Rhythmusmelodien“) – ich finde, wie ein Tänzer.

FefDass Parker ein „Lick-Spieler“ war, wird oft so dargestellt, aber Steve Coleman sieht das ganz anders. Ich denke: Natürlich kann man über so eine schnelle, hochgradig strukturierte Musik nur mithilfe einer tausendfach eingeübten musikalischen „Sprache“ improvisieren, und in Parkers Soli tauchen immer wieder ähnliche Phrasen auf – bei Coltrane ebenso, bei anderen ähnlichen Kalibern genauso. Aber Parker „sprach“ mit diesem Vokabular extrem eloquent und auch spontan. Die Starrheit der Licks ergab sich bei denen, die Parkers Sprache zur „Bebop“-Norm machten und viel weniger kreativ wiederholten.

So ähnlich hatte ich das gemeint, ich weiss nicht, wie man zwischen „patterns“ (die bezeichnen ja eigentlich rhythmische Figuren, Muster, die sich wiederholen) und „licks“ so deutlich unterscheiden könnte, wie Du das anscheinend machst. Ich wollte jedenfalls nicht Parkers „Leistung“ kleinreden mit dem Wörtchen „Lick“, nichts läge mir ferner! Was Du in der Folge zum Vokabular schreibst, das kann ich eigentlich alles auch so unterschreiben – das war also bloss ein Missverständnis!
Am besten merkt man die Existenz dieser „Licks“ oder „Patterns“ oder wie man sie nennen mag wohl dann, wenn man selber mal Soli dieser Musiker nachgespielt hat (fürs eigene Transkribieren hat’s bei mir nicht ganz gereicht bzw. das habe ich anderswo ein paar wenige Male versucht) … am deutlichsten wurde mir das bei Cannonball bewusst (den ich nichtsdestotrotz enorm schätze – aber eine gewisse Entzauberung fand schon statt durch das genauere Hinschauen, das Erkennen von Mustern, die in unterschiedlicher Realisierung immer wieder auftauchen), aber auch bei Parker wurde mir einiges klar, als ich ein paar Transkriptionen in die Finger kriegte und sie in die eigenen Finger zu kriegen versuchte … dabei ist der Variantenreichtum wie Du sagst riesig, aber es gibt v.a. auf rhythmischer Ebene Muster, Phrasen, Patterns, Licks, was immer, die immer wieder auftauchen, kürzere, längere, die sehr oft so enden, dass die einen Beat Platz lassen für den Drummer – und da folgen dann die tollen Kommentare von Max Roach – mop mop!

FefLester Young steht meines Wissens mehr für die „lineare“ Herangehensweise, bei der die Logik der melodischen Entwicklung Vorrang hat. Er soll relativ locker und großzügig über die harmonischen Strukturen hinweggegangen sein. Coleman Hawkins hingegen war der Meister der harmonischen Strukturen, aufsehenerregend etwa in Body and Soul. Dafür waren seine Linien melodisch nicht immer so überzeugend wie die von Young. Ich denke, Parker hatte einfach beides.

Man sollte sich über die Freiheit eines Lester Young nicht allzu grosse Illusionen machen (oder nicht zu kleine, wenn man’s anders dreht, in seiner Kunst war er natürlich unendlich frei!). Es gibt „Lizenzen“, Töne, die nicht in die eigentlich zu spielenden Akkorde passen, aber unter Umständen erlaubt sind (man darf z.B. zwischen zwei Tönen des Akkordes chromatisch spielen, aber man solle eher nicht Des spielen statt D wenn man im C-Dur Akkord ist, das klänge wohl nicht so toll, und Es zu spielen klänge wohl in den meisten Fällen dermassen daneben, dass jeder im Raum merken würde, dass man sich vergriffen hat. Man kannn aber z.B. vom C zu E in hochziehen, chromatisch (oder – Hodges! – mit Glissando), man kann auch zum G weitergehen, man kann beim F anhalten und zum As weitergehen, wenn F-moll der nächste Akkord ist, was weiss ich … der Möglichkeiten sind viele, aber es gibt Regeln und dementsprechend Regelverstösse, die sich natürlich auch gewandelt haben … es gibt auch Leute – Pres gehörte zu ihnen – die manchmal etwas plazieren konnten, was komplett falsch war, aber perfekt passte. Aber generell läuft der Vergleich Pres/Hawk eher so, dass Hawk alles auskostet, hoch und runter, hoch und runter quasi jeden Ton jedes Akkordes ausspielt („Body and Soul“, das eine sehr dichte harmonische Struktur hat, bleibt eins der schönsten Beispiele), während Pres eher über die Akkorde schwebte, Linien legte, die sich nicht die Mühe machten, richtig in die Akkorde hinabzusteigen … allerdings ist das Legen dieser Linien eine hohe Kunst, eine der Reduktion, eine der kreativen und sinnvollen Auswahl. Die Schlenker, die Young dann aber zwischen die längeren liegenden Töne setzt, die fügen sich dann meist wieder perfekt in die zugrundeliegenden Akkorde ein. (Zudem darf nicht vergessen werden, das Pres der original honker war, die wohl prägendste Stimme für Legionen von R&B-Tenoristen, für die ganzen Texas Tenors war er wenigstens so bedeutsam wie Hawkins, vermutlich sogar viel wichtiger, auch wenn man das im Ton oft nur erahnen kann!)

FefFür mich sind bei Steve Coleman das Rhythmische und das Melodische sehr eng verbunden. Er beschäftigte sich auch sehr eingehend mit harmonischen Fragen und hat dazu eigene Konzepte, die auch auf (alte) europäische Ideen zurückgehen. Ich stell mir vor, was seine Linien für viele weniger melodisch macht, ist möglicherweise der Zweck, zu dem die Melodie-Linien eingesetzt werden: mehr zur Bewegung und zum Spiel mit Strukturen – weniger in einer „liedhaften“ Art (ich weiß nicht, ob man das so sagen kann). In diesem Sinn würde ich Dir zustimmen, falls Du es so meinst – nur will ich eben nicht die Coleman-Musik auf das Rhythmische reduzieren, denn ich mag nämlich gerade auch das Melodische seiner Linien, z.B. das. Seine Musik änderte sich später stark und es gibt durchaus auch irgendwie „Liedartiges“, z.B. hier (von einem dänischen Komponisten der Konzertmusik), aber tendenziell scheint mir der Schwerpunkt seiner Musik doch auf rhythmisch-melodischer Bewegung und Spiel mit Struktur zu liegen. So verstehe ich Deine Vorbehalte durchaus.

Bin im Bureau, keine Streams … aber ich will Coleman als Saxophonisten gewiss nicht auf das Rhythische reduzieren. Für mich ist er oft erstaunlich nah an Parker, an dessen Frische und Ideenreichtum, und auch an dessen … dummes Wort, aber wir reden hier ja (auch) über Kunst: Reinheit.

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