Re: Jazz-Glossen

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gypsy-tail-wind
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Schöner Post, danke! Ich glaub jetzt versteh ich wesentlich besser, wo Du her kommst. Vieles ist jetzt jedenfalls für mich nachvollziehbar.

Dein Radio ist also eins, das mit einer Playlist läuft, die Du programmierst? Bowie … ich hab die erwähnten Stücken nicht im Ohr, bin nicht mal sicher, ob ich sie kenne, aber vielelicht würdest Du bei The Leaders fündig? (Hier gibt’s Samples, wähl die Albumtitel aus, um reinzuhören.)

Was Du zum „goldenen Zeitalter“ des Jazz schreibst, ist wohl nicht falsch – aber diese eigentlich resignative Haltung schmerzt mich einfach, darum wohl treibe ich die Diskussion immer wieder fort! Ich kenne Leute, die Mühe damit haben, mit Jazz nach ca. 1965 klarzukommen, andere, die wiederum nichts Altes hören mögen. Beide Haltungen sind mir zu gleichen Teilen fremd, letzere allerdings noch mehr, denn Neues zu hören ohne zu wissen oder wenigstens ein genuines Interesse daran zu haben, es wissen zu wollen, neugierig zu sein darauf, woher es stammt, ist für mich eine unmögliche, ja undenkbare Haltung. Dass sie in der Debatte zwischen den Zwergen und den Riesen dazu führt, dass man sich gänzlich auf die Seite der Riesen schlägt, ist allerdings für mich auch ein ziemlich fremder Gedanke.

Was nun das Coleman-Zitat betrifft … ich könnte damit leben, was er sagt, wenn es nicht so kategorisch daherkäme. Dass die grossen Figuren des Jazz so unendlich komplexe Rhythmen geschaffen haben, höre ich so jedenfalls nicht – es sei denn, man will Basie darum komplex nennen, weil es nach westlichen Methoden nicht möglich ist, zu notieren, was er rhythmisch gemacht hat … Ellington dann ist der grösste Kolorist des Jazz der Tonsetzer mit der immensesten Farbpalette, den ich aus der Welt des Jazz kenne. Die Dichotomie, die Coleman setzt, ist wohl nicht neu und taucht auch anderswo auf, aber ich würde weder dem Rhythmus (was genau „Rhythmusmelodien“ sein sollen, weiss ich nicht) noch den „Farben“ eine Vorherrschaft zugestehen wollen. Das sind doch Facetten eines Ganzen, die zusammengreifen müssen. So ist mir manches aus der M-Base Ecke eben gerade melodisch viel zu dürftig, wohingegen der Rhythmus zum Selbstzweck, zur puren Demonstration des eigenen Könnens wird – was natürlich rasch öde und ermüdend wird.

Was Du hingegen zur Freiheit schreibst, kann ich wieder über weite Strecken unterschreiben. Oder anders gesagt: die in Deinen Sätzen abgelehnte Vorstellung der Freiheit, ist eine Vorstellung ohne Hände und Füsse, zumal wenn wir uns innerhalb des Jazz bewegen und nicht über den Tellerrand hinaus in die frei improvisierte Musik schielen wollen – da liefe die Diskussion dann wohl wieder anders. Ob Coltrane nun „frei“ gespielt hat oder nicht, ist mir am Ende völlig egal, zumal sich diese Idee der Freiheit an engen Vorstellungen von Harmonik und Melodik und Rhythmik misst, die für mich am Ende nicht mehr als manchmal hilfreiche Krücken sind. Das Zentrale ist doch, dass Coltrane in einer Tradition steht, einen Weg geht, ohne dabei Vorhergehendes zu Verleugnen. Das war bei Parker und Gillespie ja eigentlich nicht anders, bei Ayler aber auch nicht. Die Avantgarde als Phänomen ihrer Zeit hatte gewiss ihre Berechtigung und kann im Rückblick auch heute noch in mancher Hinsicht faszinieren … aber am ergiebigsten bleibt sie wohl da, wo sie sich nicht in einer Anti-Haltung erschöpft, sondern in Bezug setzt zu anderen Spielarten der Musik. Musik im luftleeren Raum ist allerdings sowieso – wie diese absolute „Freiheit“ – ein Unsinn bzw. ein Ding der Unmöglichkeit.

Zu guter letzt: die Funktionsharmonik – doch, dass die zum Korsett wird, kann ich mir bestens vorstellen. So diffizil und differenzierbar ist sie dann eben doch nicht, Coltrane und später auch Wayne Shorter oder Herbie Hancock haben diese „Sprache“ auf die Spitze getrieben, zugleich komplexer und offener gemacht. Zudem fing das ja schon bei Beethoven (oder wohl noch früher!) an, dass die einfache Funktionsharmonik gesprengt wurde. Dass der Jazz irgendwann auch dahin kam, ist nicht weiter verwunderlich. Ob man dem nun eigene „Gerüste“ und Strukturen harmonischer Art entgegensetzt, wie Monk oder Andrew Hill es taten, oder aber mit einem immensen Wissen und Bezug auf Traditionen (nicht nur des Jazz) die Strukturen dehnte, überdehnte, aufbrach (von Mingus und Dolphy bis zu Shepp, Ayler, Taylor) – ich finde oft gerade die Leute, die sich an den Grenzen bewegen am spannendsten.

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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba