Re: Jazz-Glossen

#7661409  | PERMALINK

gypsy-tail-wind
Moderator
Biomasse

Registriert seit: 25.01.2010

Beiträge: 69,529

Peter Rüedi ist noch immer einer meiner liebsten Jazz-Schreiberling – obgleich die Postille, die er mit seiner wöchentlichen Plattenkritik schmückt, gar nicht mehr geht. Zufällig ist mir die neuste Nummer in die Hand gekommen (Die Weltwoche Nr. 5 / 2012, S. 55), in der er die neue Intakt-CD von Co Streiff/Russ Johnson, „In Circles“, zum Anlass nimmt für eine Beobachtung, die mir aus dem Herzen spricht.

Er beschreibt zuerst die beiden Traditionalisten-„Schulen“, also die Ewig-Gestrigen (das geht von Dixieland-Revival bis zu Wynton M.) und die Ewig-Morgigen (die Arrière-Gardisten), „denen nicht in den Kopf will, dass gegen nicht mehr existierende Wände anrennen (oder gegen ein längst geflüchtetes Publikum) wenig Sinn macht“. Denen entgegen hält Rüedi „die wachen Geister, die sich bewusst sind, dass es ohne Vergangenheit keine Gegenwart gibt und ohne Gegenwart keine Zukunft“ und fährt fort:

mir scheint, die haben zurzeit ziemlich Aufwind unter den Flügeln.
Nicht unbedingt in kommerzieller Hinsicht. Aber künstlerisch bewegt sich derzeit zwischen den Orthodoxien (jener der Traditionalisten und der der Avantgardisten) in der improvisierten Musik so viel, ass wir über eine dritte Sorte von Gestrigen nur noch staunen können: die, welche noch immer ihre Grabgesänge auf den toten Jazz daherleiern wie eine Liturgie.

Die Streiff/Johnson-CD (die ich unbedingt haben will) dient Rüedi dann natürlich als Beispiel für sein Argument. Und ich schliesse mich dieser Beobachtung gerne an – auch als weitere Äusserung meinerseits in der ganzen Debatte, die wir hier an verstreuten Orten führen über die Zukunft des Jazz und allerlei orthodoxe und weniger orthodoxe Ansichten. Rüedi bringt jedenfalls einmal mehr auf kleinsten Raum etwas auf den Punkt, was ich selber schon einige Male weniger erfolgreich zu formulieren versucht habe.

--

"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #165: Johnny Dyani (1945–1986) - 9.9., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba