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FefGenau das ist der Punkt! Es ist eine Frage des Jazz-Verständnisses. Das hier dargestellte ist natürlich komplett okay und in Europa wohl auch das vorherrschende.
Das hat mit Europa nichts zu tun.
FefAber es gibt eben auch ein anderes Verständnis, das man ebenfalls verstehen und akzeptieren kann. Das versuche ich zu vermitteln. Ein Marsalis sagt nicht: Lasst uns jetzt ganz konservativ, engstirnig, langweilig und epigonal sein und altes Zeug nachspielen. Diese Leute haben einfach ein anderes Verständnis von Jazz und von Jazz-Qualität. Es kommt ihnen auf etwas anderes an als Stile brechen, Stile mischen, neue Konzepte hervorbringen usw.. Sie wollen diese Art zu spielen (wir nennen es „Mainstream“) nicht verlassen, denn sie identifizieren sich mit dieser großartigen afro-amerikanischen Musik-Tradition, sie leben in ihrem Spirit und wollen sie in ihrer ganzen Tiefe erfassen und spielen können, egal ob das jetzt besonders neuartig, originell oder sonst irgendwie spektakulär ist.
Die Jazz-Musik hat sich aber gewaltig entwickelt. Du willst mir doch nicht allen ernstes sagen, Jelly Roll bis Miles Davis‘ second quintet sei alles dasselbe, mit derselben coolen Haltung gespielt, alles „Mainstream“?
Die „grossartige afro-amerikanische Musk-Tradition“ lebt ja eben von der Entwicklung, der laufenden Absorption neuer Einflüsse und Ideen. Wer das nicht begreift hat meiner Meinung nach „Jazz“ und die „grossartige afro-amerikanische Musik-Tradition“ überhaupt nicht verstanden.
FefWenn im erwähnten YouTube-Video Betty Carter mit Roy Hargrove und Hank Jones in der Carnegie-Hall so locker ihre traditionelle Musik spielen, dann ist das vielleicht ein wenig so, wie wenn Obama in seiner lässigen Art durchs Weiße Haus geht. Diese Dinge haben für sie gewiss eine ganz andere Bedeutung als für einen Jazz-Fan in Mittel-Europa.
Die Coolness der hippen Neger… das ist eine slippery slope und kommt schon ganz nah an positiven Rassismus, da würd ich aufpassen (ich will Dir das nicht vorwerfen, nur drauf aufmerksam machen, wohinaus solche Formulierungen laufen).
Und Betty Carter lass ich nicht in den Topf mit Hargrove und Marsalis und anderen werfen. Die hat das Feuer am Brennen gehabt, hat ihren urgeigenen Stil entwickelt und die Musik auf ihre eigene Art weitergebracht und erneuert, wie das kein Young Lion je auch nur ansatzweise versucht hat!
Hank Jones… über ihn brauch ich nun wirklich nichts zu sagen. Er hat in der Tat manchmal mit Young Lions gespielt, am besten gefällt er mir aber doch mit Leuten wie George Mraz oder Bruder Elvin als Begleiter.
FefDass man von einer Musik ständige Fortentwicklung erwartet, ist ja ein westliches, nicht auf die ganze Welt übertragbares Phänomen. Es hängt wohl mit dem Markt zusammen, vielleicht auch mit den Vorstellungen der europäischen „Moderne“ („moderne Kunst“). Die Jazz-Kritiker, die für unsere Sichtweise der Jazz-Geschichte gesorgt haben, sind natürlich auch laufend an Neuem interessiert, über das sie schreiben können. Wohl deshalb geht in den üblichen Darstellungen der Jazz-Geschichte meines Erachtens ein wenig unter, dass das Konstante immer schon eine zentrale Rolle spielte: Es gab viel mehr Dixieland als Bebop; es gab nie „Bebop“, „Hardbop“, „Neobop“, „Neo-Konservativ“ usw., sondern nur einen ziemlich konstanten Strang, der einmal mehr, zeitweise weniger beachtet wurde und dann von den Kritikern wieder neu entdeckt wurde. Die 1960er Jahre werden als die Zeit des „Free Jazz“ betrachtet, aber die Free-Jazzer hatten fast überhaupt keine Auftrittsmöglichkeiten (außer einem Boom in Europa Anfang der 1970er Jahre). Was wirklich gespielt wurde, war so etwas wie „Mainstream“ oder „Bop“ oder wie immer man das bezeichnen will. Und der alte Armstrong schaffte es damals (1960er Jahre) bis in die Charts. Der allermeiste Jazz, der gehört wurde, war Dixieland. Es gab überall diese Jazz-Vereine. Das lebte alles ziemlich konstant weiter. Die Kritiker redeten halt kaum davon.
Du wiederholst hier ein paar Punkte von oben. Wie gesagt, die Konstante gibt’s nicht. Es sei denn, die Konstante heisst „Entwicklung“ dazu sind keine Vorstellungen von europäischer Moderne nötig (was ist das überhaupt? Ich verstehe die Übertragung auf den Jazz nicht) und die Kritiker, die diese Sichtweise uns in den Kopf gehämmert haben sollen wären eh keine Europäer… (es sei denn, Du betrachtest alle kaukasischen Amerikaner auch als Europäer).
Dass es immer Dixieland gab: gekauft. Aber die Wahrnehmung besteht nicht bloss aus Scheuklappen der Kritiker, das geht schon ein wenig tiefer. Der Condon-Kreis etwa hat die Bebop-Ära überlebt und weiterhin hervorragende Musik gemacht (mit zwei, drei Ausnahmen waren das aber auch alles „Europäer“), das grosse Dixieland-Revival beginnt aber in den frühen 40ern und manche Musiker, die da wieder ausgegraben wurden (Bunk Johnson etwa) brauchten erst mal ein neues Gebiss, bevor sie nach 20 Jahren oder so überhaupt wieder spielen konnten. Dass die immer da waren stimmt schlicht nicht. Dass tausende Amateur-Bands (wie noch heute) Dixieland gespielt haben hingegen, das wird wohl stimmen.
Den Free Jazz scheinst Du einfach nicht begreifen zu wollen. Man kann die ganze Avantgarde-Bewegung nicht vollständig erfassen, wenn man nicht die Sozialgeschichte, die politische Entwicklung, die Bürgerrechtsbewegung mitdenkt. Und dass das alles irrelevant war würde wohl heute nicht mal Marsalis behaupten. Solche Avantgarde-Bewegungen sind immer Randphänomene, das liegt in der Natur der Sache, aber das einfach abzutun und zu sagen, es wurde „Mainstream“ und „Bop“ gespielt, das ist fahrlässige Geschichtsklitterung!
Weiter: der Bop, der Mainstream, versank in den 60ern auch immer mehr… die Clubs schlossen, die Hotels und Lounges buchten andere Musik, manche Clubs stellten auf Rock-Musik um – der Jazz war endgültig keine populäre Musik mehr. (Aber die Amateur Dixieland-Bands lebten natürlich weiter. Sei es zum Frühschoppen auf der Wiesn oder zum Puurezmorge in den schweizer Bergen…)
Dass Armstrong es in den 60ern in die Charts geschafft hat wiederum hat mit Jazz wenig zu tun, denn Armstrong war schon längst MOR und zudem eine (vielleicht DIE!) überragende Figur der amerikanischen Musik, unverkennbar und populär wie kein anderer Jazzmusiker es je war (Ornette hat übrigens auch mal noch mitgespielt auf einer seiner späten Scheiben).
FefAuf der ganzen Welt läuft das doch so. Keine traditionellen indischen oder afrikanischen Musiker sagen alle paar Monate: Jetzt brauchen wir dringend einen neuen Stil, ein neues Konzept usw., sonst hört unsere Musik auf, lebendig zu sein, und kommt ins Museum. Die haben gar kein Museum. Was gespielt wird, ist lebendig. Was nicht gespielt wird, gibt es nicht, Punkt. – Es kommt in diesen Traditionen nicht auf Neuartigkeit an, sondern auf andere, tiefgehende Qualitäten, die man von außen nicht mitkriegt. Wir hören nicht, wie west-afrikanische Trommelmusik oder indische Musik funktioniert und schon gar nicht, wann etwas besonders gelungenes Feeling hat. Wir kriegen nur ein wenig von der Oberfläche mit und können nicht unterscheiden, ob das echte Meister sind oder eine Tourismus-Geschichte. Und vor allem erfassen wir die Bedeutung der Musik nicht, sondern nur ihren exotischen Reiz. (Darum sind ja auch all diese „Weltmusik“- und sonstigen Stil-Mischungen so fraglich).
Wenn Du Dich mal eine Weile mit indischer Musik befasst, wirst Du schon gewisse Dinge erkennen können (falls Du nicht reiner Hörer ohne jegliches Verständnis von musikalischen Formen und Techniken bist – das würd ich jedenfalls keinem Verübeln, aber es hilft eben gerade beim Verständnis von „fremden“ Musik-Kulturen schon, wenn man auch von der Seite ein gewisses Grundwissen hat, gewisse Fachbegriffe verstehen und einordnen kann).
Die indische Musik („afrikanische“ gibt’s eh nicht, Afrika ist kein Land, auch wenn man das heute noch so empfindet in der westlichen Welt) mit der europäischen oder dem Jazz zu vergleichen ist wie Äpfel und Orangen… die personenbezogene, Meister-Schüler-Beziehung, die nicht-schriftliche Weitergabe des musikalischen Wissens, das ist eine ganz andere Art, die Tradition zu pflegen.
Den grossen Hass, der von vielen der „Weltmusik“ entgegenschlägt, habe ich auch noch nie ganz begriffen. Es geht doch darum, dass man gemeinsam Musik macht. Natürlich gibt’s viele „Produzenten-Ideen“, die auf die klingelnde Kasse aus sind – aber selbst da gelingt manches. Und wenn man darüber hinaus schaut, öffnen sich manchmal durchaus neue Welten.
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