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Um in der schönen Metapher zu bleiben (danke dafür, katharsis!): man könnte es auch mathematisch berechnen, wie viele Möglichkeiten es gibt über „I Got Rhythm“ oder andere Standard-Changes zu solieren…
Wenn heute junge Musiker auf die Bühne gehen und Standards, Bop-Klassiker und eigene Originals in dieser „Sprache“ spielen, dann ist das eben auch nur noch Stochern in der Asche – da brennt kein Feuer mehr. Das Feuer brennt da, wo ein lebendiger Traditionsbezug zum Erscheinen kommt, ein Traditionsbezug – und das stört mich in dieser Dikussion immer wieder, merke ich gerade – der eben nicht beim Bebop stehen bleibt, sondern auch die sogenannte „Avantgarde“, den „Free Jazz“, aber auch New Orleans, Chicago, Swing miteinbezieht. Damit will ich nicht einem beliebigen postmodernen Eklektizismus das Wort reden, denn interessant ist nicht die pastiche, auch wenn sie mit Schmiss gespielt wird (in den Verdacht fällt bei mir manchmal Gianluigi Trovesis jüngere Musik, auch wenn ich ihn sehr, sehr gerne mag), interessant ist es stets da, wo etwas Eigenes aufscheint, etwas Sperriges, etwas, was aufhorchen lässt. Wenn man nun Jazz nur als – sehr polemisch gesagt – Weltflucht und feel good-Soundtrack begreift, wird man diese Dinge wohl nicht entdecken oder nur zufällig mal auf etwas stossen.
Um der Frage vorzubeugen: Wo höre ich solchen Jazz? Zum Beispiel bei den Niederländern um Misha Mengelberg, Han Bennink und ihr ICP Orchestra (Michael Moore, der grossartige Altsaxophonist, ist übrigens auch ein brillanter Standards-Interpret, und man kann, ja muss ihn wohl auch als Nachfahre von Lee Konitz und Paul Desmond betrachten) aber auch im Kollektief des verstorbenen Willem Breuker. Das Italian Instabile Orchestra (um Leute wie Trovesi, Mario Schiano, Giancarlo Schiaffini, Giorgio Gaslini, Carlo Actis Dato oder Bruno Tommaso) hat auch immer wieder frische Impulse gegeben (und aus dem Orchester lösten sich diverse kleine Formationen). In den USA gibt’s die erwähnten Leute… etwa Von Freeman, Roscoe Mitchell, Henry Threadgill, Anthony Braxton, William Parker, Steve Coleman, Tim Berne, Greg Osby, Matana Roberts, Taylor Ho Bynum, John Zorn, Nicole Mitchell, Kahil El’Zabar, Jason Moran, Mary Halvorson… da läuft schon einiges, man muss bloss hinhören (wollen)! Und ob diese Leute älter oder jünger sind ist mir an sich ziemlich egal. Natürlich freut es einen, wenn jüngere (Halvorson, Ho Bynum – beide aus dem Braxton-Umfeld) etwas tolles machen, aber um das Alter (und die Schönheit) geht’s bloss den Promo-Abteilungen, die Joshua Redmans Glatze inszenieren mussten und mit Diana Kralls nicht ganz Model-fähigem Gesicht Hochglanz-Bilder hinkriegen mussten… das ist das laute Begleitrauschen, das mich nicht im geringsten interessiert, selbst wenn ich von Redman und Krall einige CDs besitze – die allerdings kaum noch höre, man entwickelt sich selbst ja auch, man soll aber ruhig auch dazu stehen dürfen, dass man auch mal Dinge gehört hat oder immer noch hört, die nicht so einfach mit dein eigenen Vorstellungen dessen was „lebendiger“ oder noch besser „gelebter“ Jazz ist.
In diesem Sinne halte ich die dauernde Frage „wo ist denn der nächste junge shooting star“ zwar für menschlich und berechtigt, aber eben auch für falsch gedacht. Es gibt Musiker, die in jungem Alter schon „fertig“ sind, reife Musik spielen… aber es gibt eben auch viele, bei denen reife Musik einen längeren Reifungsprozess voraussetzt, Lebenserfahrung, Entwicklung von musikalischen (und sozialen, politischen, was weiss ich) Vorstellungen.
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #164: Neuheiten aus dem Archiv, 10.6., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba