Re: Stereolab, ou: The Groop

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Lang, lang ist’s her, dass ich hier etwas über Stereolab geschrieben habe. Und dass, obwohl die Stereolab-Diskographie noch keineswegs abgearbeitet ist.

Mir erscheint es manchmal so, dass The Lab mit EMPEROR TOMATO KETCHUP den Höhepunkt ihrer Medienpräsenz erlebt haben, mit DOTS AND LOOPS ihren kommerziellen Höhepunkt erreichten, danach aber etwas der Aufmerksamkeit der Fachpresse und des Publikums entglitten. Die etwas sperrige, aber von mir sehr geschätzte COBRA AND PHASES … MILKY NIGHT war wohl nicht nur Kassengift, auch die Kritiken waren teilweise vernichtend. Völlig zu Unrecht, meine ich. Aber vielleicht haben Stereolab sich davon nicht mehr so richtig erholt. Jedenfalls konnte The Groop nie mehr an die Erfolge von ETK oder D&L anschließen. Das ist schade, denn auch danach haben Stereolab noch sehr gute Platten gemacht. Eine davon, und in meinen Ohren eine der besten Lab-Alben überhaupt, ist SOUND-DUST von 2001.

Es gibt Stimmen, die behaupten, eine Stereolab-Platte klingt wie die andere. Das Gegenteil ist richtig! Zwischen TRANSIENT RANDOM-NOISE und DOTS & LOOPS liegt eine erstaunliche Entwicklung von monotonen Gitarrendrones à la Kraut und Velvet Underground bis zur raffinierten Bossa Nova-Electronica. Und dazwischen liegen gerade mal 4 Jahre. Und auch danach haben sich Stereolab immer weiter entwickelt. Gemein geblieben ist der Musik von The Lab aber über die ganze Zeit das Interesse an und das Verarbeiten von verschiedenen (pop-)musikalischen Avantgarden aus unterschiedlichsten Quellen. Damit klingen sie immer anders, aber bleiben doch immer typisch Stereolab.

SOUND-DUST macht da keine Ausnahme. Es ist ein weit her geholter Vergleich, der auf beiden Beinen hinkt, aber ich wage es trotzdem mal: War COBRA in seinen collagen-artigen Kontrasten so etwas wie Stereolabs WHITE ALBUM, dann ist SOUND-DUST so etwas wie Stereolabs PET SOUNDS. Nicht, dass Stereolab klingen wie die Beach Boys, wenngleich Brian Wilson einer von vielen Einflüssen gewesen sein dürfte. SOUND-DUST ist aber ähnlich wie PET SOUNDS ein reifes Werk, musikalisch sehr komplex, nachdenklich, melancholisch, manchmal fast düster, irgendwie erwachsen. Stilistisch ist es weit geschlossener als das Vorgängeralbum. Prallten bei COBRA Gegensätze aufeinander, so ist hier alles fein miteinander verwoben. Dabei beginnt SD eigentlich recht ungewöhnlich – aber damit auch wieder typisch Stereolab: Das erste Stück BLACK ANTS IN SOUND-DUST ist eine kurze Übung in Minimal Music goes Pop. Von da an nimmt sich SD aber viel Zeit und entwickelt sich in langsam ausformulierten großen Spannungsbögen. Das zweite Stück SPACE MOTH spannt den Hörer minutenlang auf die Folter, bis es eine Wendung nimmt und erst dann richtig Fahrt aufnimmt. Noch ausgeprägter ist das bei CAPTAIN EASYCHORD, das sich auf halber Strecke in etwas völlig anderes verwandelt, und dem bedrohlichen SUGGESTION DIABOLIQUE, das sich langsam in 7:30 min. aufbaut

Typisch an SD ist aber etwas anderes: Auf keiner andere Stereolab-Platte gibt es so komplexe Arrangements. Hier schichten sich unzählige Instrumental- und Gesangsstimmen übereinander. Während E-Gitarren anders als auf den frühen Lab-Platten kaum mal eine tragende Rolle spielen, dominieren hier Keyboards – das Booklet listet u.a. Piano, Wurlitzer, Farfisa und Cembalo auf, dazu auch noch Marimba, Vibraphon und Glockenspiel – und komplexe Bläserarrangements – gleich zu Anfang sogar mit einer flatternden Flöte – und nicht zuletzt der mehrstimmige Gesang von Laetitia Sadier und Mary Hansen. Auf NOTHING TO DO WITH ME gibt es ein anrührendes Duett der beiden. NAUGHT MORE TERRIFIC THAN MAN klingt fast so als hätten Burt Bacharach und Curtis Mayfield gemeinsam ein Stück geschrieben und arrangiert. Produziert haben übrigens John McEntire und Jim O’Rourke, und die haben einen wirklich guten Job gemacht, diese Fülle an Klang schön abzubilden.

Nach DOTS und COBRA ist SOUND-DUST für mich die dritte Großtat von Stereolab in Folge. Ich will nicht entscheiden, welche Lab-Platte die beste ist. Wenn man TRANSIENT, EMPEROR, DOTS, COBRA und SOUND-DUST nebeneinander stellt, muss man zunächst feststellen, dass sie jeweils einen ganz eigenen Charakter haben und daher nur schwer zu vergleichen sind. Jede hat ihre ganz eigenen Qualitäten. Ich gebe aber gerne zu, das SOUND-DUST die Stereolab-Platte ist, die ich bestimmt am häufigsten gehört habe und nach der ich zeitweise geradezu süchtig war, so sehr konnte und kann sie mich immer noch in ihre melancholisch nachdenkliche Klangwelt hineinziehen.

Nach SOUND-DUST ereilt Stereolab ein Schicksalsschlag: Mary Hansen, die zweite Sängerin (und Gitarristin) neben Laetitia Sadier stirbt am 9. Dezember 2002 in London bei einem Verkehrsunfall. Fahrrad gegen Lastwagen. Sie wird 36 Jahre alt.

Hier ein Nachruf im GUARDIAN: http://www.guardian.co.uk/news/2002/dec/14/guardianobituaries.artsobituaries

Und um noch mal die Werbetrommel für SOUND-DUST zu rühren:

http://www.youtube.com/watch?v=kfA8PiGzVg8&feature=related

Ich glaube auf BABY LULU gibt es sogar eine Harfe zu hören!

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)