Re: Stereolab, ou: The Groop

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Sollte sich jemand inspiriert fühlen, neu in den Stereolab-Kosmos einzusteigen, so möchte ich hier die zuletzt von mir besprochene Kompilation ALUMINUM TUNES noch mal wärmstens empfehlen. Hier wird s die Vielfalt der Musik von Stereolab in ihrer ganzen Breite wunderbar abgebildet.

Es gilt hier aber auch noch etwas zu Ende zu bringen, denn der Stereolab-Backkatalog hat noch ein paar weitere Platten zu bieten. Nach der famosen DOTS AND LOOPS von 1997 ließen sich Stereolab zwei Jahre Zeit, bis sie ihre nächste reguläre Platte veröffentlichten. Die 1999 erschienene COBRA AND PHASES GROUP PLAY VOLTAGE IN THE MILKY NIGHT trägt den wohl verschraubtesten Titel im an verschraubten Titeln nicht gerade armen Oeuvre von The Groop. Das Wort COBRA spielt auf die gleichnamige Künstlergruppe an (http://de.wikipedia.org/wiki/CoBrA), ansonsten scheint der Titel eine Wortcollage zu sein, die in ihrer Rätselhaftigkeit (und Länge!) gut zu der Platte passt.

COBRA ist eine Platte, an der sich die Geister offenbar scheiden. Zu keiner anderen Stereolab-Scheibe kenne ich einerseits solch vernichtende Verrisse, aber auch andererseits solch Lobeshymnen. Allmusic.com konstatiert „All fascinating in theory and often in practice, but COBRA still winds up being less than the sum of its parts.“ und vergibt gerade mal 2,5 von 5 Sternen. Das aber noch harmlos, verglichen mit dem Verriss des ehrwürdigen NME: „ this album is a sexless, emotionless, witless, cripplingly self-indulgent, pompously self-satisfied, intellectually hollow, achingly pretentious, stultifyingly bland, spiritually bereft, ideologically bankrupt, aesthetically repugnant, culturally pointless, musically sterile heap of shit.“ Autsch, das tut weh! Auf der Stereolab-Fanpage (http://www.koly.com/stereolab/index.php) hingegen wird COBRA zur zweitbesten von mehr als 20 Stereolab-Veröffentlichungen gekürt und auch anderenorts erfährt die Platte höchstes Lob. Auch auf diesen Seiten hat sie mindestens einen Anhänger. Auch ich bekenne, COBRA für eine der herausragenden Platten in der Diskographie von Stereolab zu halten.

COBRA ist mit mehr als 75 Minuten nicht nur eine der längsten (die längste?) Platten von Stereolab, sie ist auch eine der am stilistisch vielfältigsten. Das erste Stück FUSES klingt wie eine Mischung aus Free Jazz und Popsong. Schräge Bläser, Vibraphon und dazu singen Laetitia Sadier und Mary Hansen „Doo be doo bah“. Hier passieren völlig verschiedene Dinge zur gleichen Zeit. Es geht dann aber deutlich übersichtlicher weiter. PEOPLE DO IT ALL THE TIME ist Pop. Nicht unbedingt herausragend, aber im Vergleich zum ersten Stück doch zumindest irgendwie beruhigend. THE FREE DESIGN bezieht sich im Titel auf die gleichnamige us-Popgruppe. Was ist das für ein Takt? 5/4? 6/7? Ein komplexes, perkussives Arrangements über das sich Bläser legen und zu dem LS in gewohnt unterkühlter Weise singt. Für mich ein erster Höhepunkt von COBRA. Elemente aus sehr verschiedenen musikalischen Kontexten, komplexe Arrangements, ungewöhnliche Instrumentierungen und Songstrukturen begegnen dem Hörer auf COBRA immer wieder. ITALIAN SHOES CONTINUUM ist aus verschiedenen Segmenten montiert, INFINITY GIRL ist ein toller Popsong. Der Höhepunkt ist für mich aber die Abfolge von VELVET WATER, BLUE MILK und CALEIDOSCOPE GAZE. VELVET WATER klingt wie ein verträumtes, aber auch verstörendes Wiegenlied, bei dem LS und MH wunderbaren zweitstimmigen Gesang bieten, BLUE MILK ist ein mehr als 11-minütiges Stück, das ausgiebig Terry Riley/Steve Reich/ Phil Glass zitiert, absolut hypnotisch, und bei CALEIDOSCOPE weiß ich nicht, ob ich das unter Pop oder Avantgarde verbuchen soll. Zwischendurch hört man auf COBRA aber auch Anklänge an Brian Wilson und vielleicht die Beatles der SGT. PEPPER Phase. Keine Ahnung, was das sonst noch alles ist und woher das kommt. In jedem Falle aber ein Füllhorn an musikalischen Ideen und Zitaten, von denen man als Hörer – und das wäre mein so ziemlich einziger Kritikpunkt – aber über eine Strecke von 75 Minuten auch schon mal überfordert ist. Vielleicht sind auch nicht alle Stücke wirklich zwingend. Aber das ist ein Problem, das man mit den meisten Platten in Doppel-LP-Länge hat. Nimmt man 3-4 Stücke raus, hat man aber eine brillante LP!

Mit COBRA entfernen sich Stereolab weit von dem Konzept der „Rockgruppe“ (die sie auf ihren ersten LPs waren) und dehnen selbst das Konzept „Pop“ bis an die Grenzen. Songstrukturen werden auseinander genommen und anders wieder zusammengesetzt, ungewöhnliche Instrumentierungen (ist das am Anfang von CALEIDOSCOPE ein Theremin?), Popsongs treffen auf Jazz und Minimalismus. Nichts ist unvermittelt und direkt, alles ist durchdacht und sorgfältig konstruiert. Und trotzdem bleibt das Pop, mal mit Ohrwurmqualität, mal verstörend. Immer dreimal um die Ecke gedacht, aber toll!

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„Für mich ist Rock’n’Roll nach wie vor das beste Mittel, um Freundschaften zu schließen.“ (Greil Marcus)