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Zum Thema „Schuld und Sühne“ vs. „Verbrechen und Strafe“ die Übersetzerin Swetlana Geier:
SPIEGEL: Sie sind 87 Jahre alt, Sie wurden in Kiew geboren, 1943 kamen Sie mit Ihrer Mutter nach Deutschland. Be*rühmt wurden Sie mit den Neuübersetzungen aller großen Dostojewski-Ro*mane, den sogenannten fünf Elefanten. Kam Ihnen Ihr Leben jemals wie ein Filmstoff vor?
Geier: Ich habe bestimmt 40 Jahre meines Lebens die Unsichtbarkeit geübt, das ist für mich die Rolle meines Lebens. Denn das Übersetzen ist eine Lebensform. Es ist etwa so wie bei einem Musiker. Wenn der Brahms’ Violinkonzert einstudiert, besteht die Welt aus Brahms’ Violinkonzert, es ist dann total. Seit über 20 Jahren ist die Welt für mich Dostojewski. Und mit dem schlägt man sich mit verschiedenem Erfolg herum.
SPIEGEL: Als Sie mit dem ersten Dostojewski-Roman begannen, waren Sie schon 65 Jahre alt. War es lange Ihr Wunsch, Dostojewski zu übersetzen?
Geier: Das ist genau so, wie man gern den Prinzen heiraten möchte. Und wahrscheinlich ist es genau so selten, dass man den Prinzen auch bekommt. Die ganz große Dichtung ist für uns Durchschnittsmenschen eigentlich unerreichbar.
SPIEGEL: Was haben Sie von Dostojewski gelernt?
Geier: “Verbrechen und Strafe” ist einer der bewegendsten Texte, und wie alle großen Texte hat er einen eigenen Rhythmus. Dieser Rhythmus ist ein Presto, ist also der schnellste, den es gibt. Aber im letzten Absatz des Buchs, in den letzten sechs oder sieben Zeilen, wird ein Wort wiederholt, auf Russisch heißt dieses Wort “postepenny” , es ist ein langsames Wort, auch durch das doppelte n. Es heißt “allmählich”, ein wunderbares deutsches Wort übrigens. Der ganze Roman verläuft also in einem rasanten Tempo, und im letzten Absatz wiederholt sich dreimal das Wort allmählich. Das hat etwas zu sagen: Leben geht allmählich. Wenn man nach der Lektüre dieses Romans sonst nichts gelernt hat, damit hat man schon genug gelernt. Gewalt ist schnell und plötzlich, Leben geht allmählich.
SPIEGEL: Sie haben den Titel von “Schuld und Sühne” in “Verbrechen und Strafe” geändert. Warum?
Geier: Der Blick ins Wörterbuch für das erste Semester macht es klar, das war die Sünde meiner Kollegen. Auf dem Umschlag dieses Buchs stehen zwei Worte: “prestuplenije” und “nakasanije”. Verbrechen und Strafe. Da ist für Willkür kein Platz. Das ist eine Schlamperei. Oft kann man beim Übersetzen nur mit Vorsicht sagen, richtig oder falsch. Es geht selten ganz klar auf. Die Grenzen eines Begriffs in der einen Sprache, die Grenzen eines Begriffs in der anderen Sprache. Aber hier braucht man nicht zu spekulieren, da schaut man einfach im Wörterbuch nach.
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SPIEGEL: Wie viele Seiten Dostojewski haben Sie übersetzt?
Geier: Ich habe nicht gezählt. Es sind sehr viele.
SPIEGEL: Gibt es einen Lieblingssatz?
Geier: Nein, ich habe viele Lieblingssätze. Und ich habe viele Lieblingsworte. Das aggressivste und verwirrendste, das großartigste Buch mit der einfachsten Konstruktion ist wahrscheinlich “Verbrechen und Strafe”. Zu den Fehlern meiner Vorgänger und der Achtlosigkeit der Herausgeber gehörte, dass man sich angewöhnt hatte, Wiederholungen auch bei den großen Autoren zu streichen. Nun gibt es ein Wort, das Dostojewski sehr oft gebraucht hat. Man weiß, dass er wenig Geld hatte und ewig ohne Kerze und ohne Essen dasaß. Man dachte sich wohl, na ja, er hatte ungünstige Arbeitsbedingungen, dem Mann kann geholfen werden. Wenn er immer wieder schreibt , „plötzlich”, dann werden wir in der Übersetzung die Zahl der Wörter “plötzlich” reduzieren auf das Übliche.
SPIEGEL: Was heißt “plötzlich” auf Russisch?
Geier: Es heißt “wdrug”. Mich hat es natür*lich sehr interessiert, warum Dostojewski so oft “plötzlich” schreibt. “Plötzlich” bedeutet ja, dass die Erkenntnis beschränkt ist. Sie wissen nicht, dass hinter Ihnen eine große Spinne sitzt und gleich über Ihren Kopf läuft. Wir wissen nur das, was wir sehen, und was wir nicht sehen, das geschieht für uns plötzlich. Es ist eine Dimension des irdischen Menschen, der auf seine Sinne angewiesen ist. Wir wissen wenig, wir hören wenig, wir ahnen gar nichts. Aber es gibt ein Bewusstsein, das kein “plötzlich” hat, das göttliche Bewusstsein. Und es ist unheimlich interessant, dass bei Dostojewski gerade in ,,Verbrechen und Strafe” das Wort “plötzlich” so häufig vorkommt, weil er ja von der beschränkten Wahrnehmung des Menschen erzählt.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.