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Weches Buch/Roman könnt Ihr empfehlen? Euer Lieblingsbuch ist?
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WerbungCanzioneWeches Buch/Roman könnt Ihr empfehlen? Euer Lieblingsbuch ist?
Die Antwort auf beide Fragen lautet ganz klar: „Schuld und Sühne“ von Fjodor Dostojewski (je nach Übersetzung auch als „(Rodion) Raskolnikow“ oder „Verbrechen und Strafe“ bekannt) – ein großartiges Buch!
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Es ist viel leichter in dem Werke eines großen Geistes die Fehler und Irrthümer nachzuweisen, als von dem Werthe desselben eine deutliche und vollständige Entwickelung zu geben. (Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zürich 1988, S.531)Gogol – alles, und insbesondere die Novellen
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fuchs "And they couldn't prevent Jack from being happy..."fuchsGogol – alles, und insbesondere die Novellen
Gleiches gilt für Tschechow. Von den Romanen hat mich
Tolstois „Krieg und Frieden“ am meisten beeindruckt.--
Mein Lieblingsbuch:
Iwan A. Gontscharow – Oblomow
Oblomows Lebenszentrum ist das Bett, sein wichtigstes Kleidungsstück der Schlafrock. Aufregende Unternehmungen sind ihm ein Greuel, und Leidenschaften geht er – mit einer Ausnahme – aus dem Weg. Zwar ist er immerhin der Herr eines kleinen Gutes, doch sinniert er lieber in seinem Petersburger Bett ausgiebig über die soziale Lage seiner Dienstboten, als dass er irgendwelche Anstalten zur Verwirklichung seiner Ideen unternähme. Nur kurze Zeit erwacht er aus seiner körperlichen und seelischen Trägheit, als ihn Olga, deren Liebe Oblomow gerührt erwidert, ihn vor der Verkümmerung bewahren möchte. Doch Oblomow ist den seelischen Anstrengungen der Liebe nicht mehr gewachsen. So heiratet Olga den tüchtigen Geschäftsmann Stolz, die „positive“ Gegenfigur Oblomows im Roman. Oblomow aber ehelicht um der ungestörten Bequemlichkeit willen seine ihm ergebene Haushälterin Agafja.
Die ´Oblomowerei´, schon im Roman Kennzeichnung einer Lebenshaltung, die jeden wackeren Bürger aufreizen muss, wurde bald zum Symbol der absterbenden Feudalgesellschaft Rußlands.Für Dobroljubov (ein sozialrevolutionär ausgerichteter Literaturkritiker) ist das Gegenwort zur Oblomowerei, Revolution. Bei Lenin, der Dobroljubovs und Kroptkins Lektüre aufnimmt, wird nun Gontscharows poetisches Projekt vollends zu einem politpädagogischen Argument. In seinem Vortrag von 1922 „Über die internationale und innere Lage der Sowjetrepublik“ sagte Lenin, an den generalisierenden, alle Schichten erfassenden Aspekt der Dobroljubovschen Oblomowerei-Interpretation anknüpfend:
„Die Oblomows sind geblieben, und zwar deswegen, weil der Oblomow nicht nur ein Gutsbesitzer war, sondern auch ein Bauer, und weil er nicht nur ein Bauer ist, sondern auch ein Intelligenzler war, sondern auch ein Arbeiter und Kommunist. Es genügt uns selbst anzuschauen, wie wir Sitzungen abhalten, wie wir in den Kommissionen arbeiten, um zu sagen, der alte Oblomow ist übrig geblieben, und man muss ihn waschen, reinigen, bürsten und schlagen, bis irgendein Sinn aus ihm herauskommt.“
Mit dieser „Oblomowscina-Hyperbel“ läßt Lenin das ganze russische Volk den Gontscharowschen Text (blutig) weiterschreiben.
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Ich mag die Erzählungen von Puschkin.
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Je suis Charlie Sometimes it is better to light a flamethrower than curse the darkness. T.P.coleporterDie Antwort auf beide Fragen lautet ganz klar: „Schuld und Sühne“ von Fjodor Dostojewski (je nach Übersetzung auch als „(Rodion) Raskolnikow“ oder „Verbrechen und Strafe“ bekannt) – ein großartiges Buch!
Der Titel heißt unmißverständlich „Verbrechen und Strafe“; die Übersetzung „Schuld und Sühne“ dürfte sich in der Hauptsache aus stilistischen Gründen, als die besser klingende, durchgesetzt haben. Sie ist aber vom Inhalt her durchaus vertretbar. Die wörtliche Übersetzung würde im Deutschen zu nüchtern klingen; sie läßt eher an eine juristische Abhandlung als an einen emotionsgeladenen Roman denken. Zwar wollte Dostojewski zweifellos von vornherein darauf hinweisen, daß „Verbrechen“ und „Strafe“ auch als reale strafrechtliche Probleme verstanden werden sollen. Die beiden russischen Wörter haben jedoch eine flexiblere, nicht so eng umgrenzte Bedeutung, und die Darstellung im Roman geht weit über die juristische Problematik hinaus. Eine genaue Interpretation des Titels wäre etwa: „Verbrechen und Strafe als Schuld und Sühne“.
Die Schwierigkeit wird gelegentlich durch die neutrale Betitelung „Raskolnikow“ umgangen. Ganz so einfach sollte man es sich aber doch nicht machen.--
Das in doppeltem Sinne komischste Buch eines Russen, das mir bekannt ist (und es sind zugegebenermaßen nicht schrecklich viele), ist Die Reise nach Petuschki (auch: Moskau-Petuschki) des Vollzeitalkoholikers Wenedikt Jerofejew (1938-1990, Todesursache: Kehlkopfkrebs), 1969 im luziden Wahn niedergeschrieben und erst bzw. zuerst 1973 in einer israelischen (!) Zeitschrift erschienen. Ich kann das Buch ausnahmslos jedem empfehlen. Alleine die Widmung Jerofejews lohnt den Kauf: „Wadim Tichonow, seinem geliebten Erstgeborenen, widmet der Autor diese tragischen Seiten“. Ein Satz, der in gewissen Kreisen gerne und zur seelischen Erbauung aller im Raume Anwesender zitiert wird. Einzelne Stellen der Erlebnisse des sich langsam ins Delirium trinkenden Protagonisten auf seiner Fahrt mit dem Vorortzug von Moskau nach Petuschki herauszupicken, ist mir nicht möglich – das ganze Poem (so J.s Bezeichnung) ist ein einziger Höhepunkt. Jährliches Wiederlesen zur Weihnachtszeit macht Freude! Die passendsten Worte, quasi das Fazit zu diesem literarischen Festschmaus stehle ich mir von Paul Wittgenstein, der es in „Wittgensteins Neffe“, dem Bändlein von Selbstmitleids-Kaiser Thomas Bernhard so formuliert (ohne wissen zu können, daß er dabei den Kern dieses nachgerade gigantomanischen und mittlerweile zurecht weltberühmten Petuschki-Werkes trifft): „grotesk, grotesk“.
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I will hold the tea bag.Vielen Dank für den Tipp, Patrik. Werde es auch gleich bestellen. Man kann nie genug Bücher haben. :sonne:
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Zum Thema „Schuld und Sühne“ vs. „Verbrechen und Strafe“ die Übersetzerin Swetlana Geier:
SPIEGEL: Sie sind 87 Jahre alt, Sie wurden in Kiew geboren, 1943 kamen Sie mit Ihrer Mutter nach Deutschland. Be*rühmt wurden Sie mit den Neuübersetzungen aller großen Dostojewski-Ro*mane, den sogenannten fünf Elefanten. Kam Ihnen Ihr Leben jemals wie ein Filmstoff vor?
Geier: Ich habe bestimmt 40 Jahre meines Lebens die Unsichtbarkeit geübt, das ist für mich die Rolle meines Lebens. Denn das Übersetzen ist eine Lebensform. Es ist etwa so wie bei einem Musiker. Wenn der Brahms’ Violinkonzert einstudiert, besteht die Welt aus Brahms’ Violinkonzert, es ist dann total. Seit über 20 Jahren ist die Welt für mich Dostojewski. Und mit dem schlägt man sich mit verschiedenem Erfolg herum.
SPIEGEL: Als Sie mit dem ersten Dostojewski-Roman begannen, waren Sie schon 65 Jahre alt. War es lange Ihr Wunsch, Dostojewski zu übersetzen?
Geier: Das ist genau so, wie man gern den Prinzen heiraten möchte. Und wahrscheinlich ist es genau so selten, dass man den Prinzen auch bekommt. Die ganz große Dichtung ist für uns Durchschnittsmenschen eigentlich unerreichbar.
SPIEGEL: Was haben Sie von Dostojewski gelernt?
Geier: “Verbrechen und Strafe” ist einer der bewegendsten Texte, und wie alle großen Texte hat er einen eigenen Rhythmus. Dieser Rhythmus ist ein Presto, ist also der schnellste, den es gibt. Aber im letzten Absatz des Buchs, in den letzten sechs oder sieben Zeilen, wird ein Wort wiederholt, auf Russisch heißt dieses Wort “postepenny” , es ist ein langsames Wort, auch durch das doppelte n. Es heißt “allmählich”, ein wunderbares deutsches Wort übrigens. Der ganze Roman verläuft also in einem rasanten Tempo, und im letzten Absatz wiederholt sich dreimal das Wort allmählich. Das hat etwas zu sagen: Leben geht allmählich. Wenn man nach der Lektüre dieses Romans sonst nichts gelernt hat, damit hat man schon genug gelernt. Gewalt ist schnell und plötzlich, Leben geht allmählich.
SPIEGEL: Sie haben den Titel von “Schuld und Sühne” in “Verbrechen und Strafe” geändert. Warum?
Geier: Der Blick ins Wörterbuch für das erste Semester macht es klar, das war die Sünde meiner Kollegen. Auf dem Umschlag dieses Buchs stehen zwei Worte: “prestuplenije” und “nakasanije”. Verbrechen und Strafe. Da ist für Willkür kein Platz. Das ist eine Schlamperei. Oft kann man beim Übersetzen nur mit Vorsicht sagen, richtig oder falsch. Es geht selten ganz klar auf. Die Grenzen eines Begriffs in der einen Sprache, die Grenzen eines Begriffs in der anderen Sprache. Aber hier braucht man nicht zu spekulieren, da schaut man einfach im Wörterbuch nach.
[…]
SPIEGEL: Wie viele Seiten Dostojewski haben Sie übersetzt?
Geier: Ich habe nicht gezählt. Es sind sehr viele.
SPIEGEL: Gibt es einen Lieblingssatz?
Geier: Nein, ich habe viele Lieblingssätze. Und ich habe viele Lieblingsworte. Das aggressivste und verwirrendste, das großartigste Buch mit der einfachsten Konstruktion ist wahrscheinlich “Verbrechen und Strafe”. Zu den Fehlern meiner Vorgänger und der Achtlosigkeit der Herausgeber gehörte, dass man sich angewöhnt hatte, Wiederholungen auch bei den großen Autoren zu streichen. Nun gibt es ein Wort, das Dostojewski sehr oft gebraucht hat. Man weiß, dass er wenig Geld hatte und ewig ohne Kerze und ohne Essen dasaß. Man dachte sich wohl, na ja, er hatte ungünstige Arbeitsbedingungen, dem Mann kann geholfen werden. Wenn er immer wieder schreibt , „plötzlich”, dann werden wir in der Übersetzung die Zahl der Wörter “plötzlich” reduzieren auf das Übliche.
SPIEGEL: Was heißt “plötzlich” auf Russisch?
Geier: Es heißt “wdrug”. Mich hat es natür*lich sehr interessiert, warum Dostojewski so oft “plötzlich” schreibt. “Plötzlich” bedeutet ja, dass die Erkenntnis beschränkt ist. Sie wissen nicht, dass hinter Ihnen eine große Spinne sitzt und gleich über Ihren Kopf läuft. Wir wissen nur das, was wir sehen, und was wir nicht sehen, das geschieht für uns plötzlich. Es ist eine Dimension des irdischen Menschen, der auf seine Sinne angewiesen ist. Wir wissen wenig, wir hören wenig, wir ahnen gar nichts. Aber es gibt ein Bewusstsein, das kein “plötzlich” hat, das göttliche Bewusstsein. Und es ist unheimlich interessant, dass bei Dostojewski gerade in ,,Verbrechen und Strafe” das Wort “plötzlich” so häufig vorkommt, weil er ja von der beschränkten Wahrnehmung des Menschen erzählt.
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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.
AnonymInaktivRegistriert seit: 01.01.1970
Beiträge: 0
CanzioneVielen Dank für den Tipp, Patrik. Werde es auch gleich bestellen. Man kann nie genug Bücher haben. :sonne:
Aber Obacht: Die alte Übertragung von Natascha Spitz (Piper-Verlag) ist essentiell, die Neu-Übersetzung von Peter Urban („Moskau-Petuschki“) hingegen taugt nichts.
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@ nail 75
Swetlana Geiers Dostojewski-Version ist in ihrer „rasanten“ Perfektion möglicherweise die größte Übersetzerleistung in vielen Jahrzehnten; alle Hutläden der Republik können die Menge Zylinder, die ich nun gerne zöge, nicht liefern.
@ pinch
Danke, pinch. :sonne:
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Die Dämonen
„Die Dämonen“ ist unter Dostojewskis Romanen am heftigsten umstritten: er wurde sowohl als „grobes Pamphlet“ wie als „eines der größten Werke der Weltliteratur“ beurteilt. Das hängt natürlich in erster Linie mit der politischen Ideologie der Kritiker zusammen; schlicht gesagt, mit deren Einstellung zur russischen Revolution.
Die vordergründige Thematik ist klar. Es geht um die sogenannten Nihilisten, d.h. um den radikalen Flügel der progressiven Intelligenz, von den linken Liberalen bis zu den Anarchisten aus der Schule Bakunin. Außerdem umfaßt der Dämonen-Begriff auch die Einflüsse der westlich bürgerlich-kapitalistischen Zivilisation, die Dostojewski gerade damals besonders heftig kritisierte und die er jetzt immer mehr dem Atheismus gleichzusetzen begann. Dies ist insofern von Bedeutung, als er zu dieser Zeit (etwa seit 1868) intensiv den Plan des großen Atheismusromans – „Leben eines großen Sünders“ – überlegte; „Die Dämonen“ können geradezu als ein Versuch verstanden werden, die bisherigen Teilbetrachtungen zu diesem Thema vorläufig zusammenzufassen.
Den unmittelbaren Anlaß gab ein Kriminalfall, der als „Netschajew-Prozeß“ weit über Rußland hinaus Aufsehen erregte. Seréj Netschájew, ein Fanatiker der radikalsten Richtung, hatte in Moskau eine revolutionäre Studentengruppe organisiert, die er mit despotischer Energie und Rücksichtslosigkeit leitete, angeblich als Vertreter eines geheimen, allwissenden und allmächtigen „revolutionären Zentrums“ (das in Wirklichkeit natürlich gar nicht existierte). Als dann ein Mitglied der Gruppe, der Student Iwanow, an den Behauptungen des Führers zu zweifeln und den absoluten Gehorsam zu verweigern begann, wurde er im November 1869 auf Netschajews Befehl ermordet. Bald darauf begannen russische und ausländische Zeitungen über diesen Mord und den anschließenden Prozeß zu berichten, meist in sensationeller Aufmachung, mit vielen Übertreibungen und phantastischen Zutaten. Dostojewski erhielt außerdem Informationen von seinem Schwager, der als Moskauer Student den ermordeten Iwanow persönlich gekannt hatte. Im Februar 1870 wird bereits der erste Plan für den neuen Roman entworfen.
Abschließendes Urteil:
Der Kompromiß zwischen Pamphlet und philosophischem Roman macht sich an der Erzählhandlung bemerkbar. Sie ist an sich sehr geschickt aufgebaut. Auf den ersten Blick mag sie allzu verworren erscheinen, und sie zeigt besonders starke Einflüsse der Boulevardliteratur. Dostojewski ist jedoch mit diesem komplizierten Material gut fertiggeworden und hat mit großem Können eine Ereigniskette aufgebaut, die von Anfang an mit logischer Folgerichtigkeit zum Femenmord an Schatow führt. Allerdings ist die Abenteuerlichkeit etwas zu dick aufgetragen. Es gibt gar zu viele Verzweigungen, Überraschungen, geheimnisvolle Andeutungen, äußere Effekte aller Art, und zum Schluß eine solche Anhäufung von Katastrophen, daß es dem Leser nicht leicht fällt, sich in diesem Trümmerhaufen zurechtzufinden; stellenweise könnte man schon von unfreiwilliger Komik sprechen.
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Der Tod des Iwan Iljitsch
Anlaß zu der Erzählung lieferte ein Fall aus dem Leben: Ein Gerichtsbeamter, ein bekannter Tolstois aus Tula, starb an Krebs.
Indessen schrieb Tolstoi nicht vom Tode des Iwan Illjitsch, sondern vom Leben des Iwan Iljitsch. Die Handlung beginnt damit, dass Menschen vom Tode des Mannes erfahren, der ihr ständiger Partner im Kartenspiel war. Sie gehen in dessen Wohnung, erblicken einen gewöhnlich Entschlafenen, den Tolstoi wie folgt beschreibt: „Der Tote lag da, wie Tote immer daliegen, besonders schwer, auf Totenart mit den Gliedmaßen im Sargpolster eingesunken, den Kopf für immer ins Kissen gedrückt, ließ er seine wächserne gelbe Stirn mit den gelichteten, eingesunkenen Schläfen und eine hervorspringende, gleichsam auf die Oberlippe drückende Nase in die Luft ragen.“
Das Gesicht des Toten ist ansehnlich und schön, es enthält eine Art Vorwurf und Mahnung an die Lebenden, und das empfand ein anwesender Amtskollege des Entschlafenen als „ungehörig oder zumindest als ihn selbst nicht berührend.“
Was wir Spannung nennen, fehlt hier ganz und gar. Wir wissen von vornherein, dass Iwan Iljitsch tot ist. Er starb, bevor wir ihn kennengelernt hatten. Erzählt wird weniger vom Schrecken des Todes als vielmehr vom Schrecken des Lebens. Iwan Iljitsch starb, während er seine Wohnung einrichtete, herumlief, um Sachen einzukaufen, und sich freute, eine Wohnung zu bekommen, wie alle Welt sie besaß; er hatte eine Tochter, die er verheiraten wollte, und einen Sohn, einen Gymnasiasten mit Augenringen, um deren Herkunft der Vater wußte, und eine mollige Frau und Dienstboten. Aber das Leben war sinnlos, und die Sinnlosigkeit des Lebens erinnert sehr an die Sinnlosigkeit in der Dolgo-Chamownitscheski-Gasse Nr. 15.
Ständig sind wir dabei, uns einzurichten, ständig haben wir vor, zu leben, wenn wir aber anderes, Großes nicht erreichen, kommen wir mit dem Leben selbst nicht zu Rande, und der Tod wird nicht nur schmerzvoll, sondern die Krönung eines bis ins Superlativ sinnlosen Daseins werden.* * * * *
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Die Auferstehung
Ein Mann hat ein Verbrechen begangen: er hat ein Mädchen verführt und diese erste Frau, die er besaß, nicht geheiratet. Die Frau geht zugrunde, der Mann jedoch bereut, er tut das ganz bewußt, nachdem er die wahre Religion gefunden, sein Leben umgestaltet hat und auferstanden ist. So sieht die logisch begründete Idee aus.
Aber der Frühling, in dem Nechljudow Katjuscha geliebt hat, ist schöner als die Auferstehung, derzufolge Nechljudow, der immer noch schöne, doch bereits füllige und selbstzufriedene Mann, bereut und über seine Reue gerührt ist.
Die Geschichte der Liebe erweist sich als stärker als die Geschichte der Reue.Der Roman „Auferstehung“ entstand 1889-1890. 1895-1896, 1898-1899, das heißt mit Unterbrechungen innerhalb von drei Jahren.
Ursprünglich lautete sein Titel „Eine Koni-Novelle“, denn im Juni 1897 erzählte A.F. Koni in Tolstois Gegenwart von einem Geschworenen, der während einer Gerichtsverhandlung in der des Diebstahls angeklagten Prostituierten die Frau wiedererkannte, die er einst verführt hatte. Die Frau hieß mit Nachnamen Oni, war eine Dirne billigsten Ranges, von Krankheit verunstaltet. Der junge Mann bat um Sprecherlaubnis; man brachte die Frau aus dem Karzer: sie war ein tief gesunkener Mensch.
Jedoch hatte der Verführer sie einst geliebt, er faßte den Entschluß sie zu ehelichen, und bemühte sich darum. Seine große Tat blieb unvollendet: die Frau starb im Gefängnis.
Eine solche Situation ist tragisch, sie enthüllt das Wesen der Prostitution und erinnert entfernt an Maupassants Novelle „Le port“, Tolstois liebste Erzählung, die er übersetzte und mit dem Titel „Francoise“ versah. Ein Matrose geht nach großer Fahrt an Land, findet im Hafen ein Bordell, nimmt sich eine Frau und erkennt in ihr erst als sie beginnt, ihn auszufragen, ob er auf See einen bestimmten Matrosen getroffen habe, und ihm ihren Namen nennt, seine Schwester. Tolstoi fand Interesse an der Situation: Er bat Koni, ein kleines Buch für den Verlag „Posrednik“ zu schreiben. Koni versprach es und tat es nicht.
Einige Zeit später bat Tolstoi ihn, ihm das Thema zu überlassen.
Er begann die Lebenslage als Konflikt zu gestalten, das Werk kostete mehrere Jahre schriftstellerischer Arbeit und elf Jahre Nachdenken.
Zunächst war Tolstoi tief beeindruckt von der Entschlußkraft, die der junge Mensch aufbrachte, um seine Schuld zu sühnen. Der Held des Romans sollte ein Tolstianer werden.
Bemerkenswert ist, daß Tolstoi in keinem seiner Werke (ausgenommen das unvollendete schwache Theaterstück „Und das Licht leuchtet in der Finsternis“) einen Tolstoianer gezeichnet hat.--
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