Re: Michael Gielen – Zeit 18/2010

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Anonym
Inaktiv

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Danke, gypsy! Das Interview ist zwar wieder Feuilleton, aber gerade noch hinnehmbar, wenn Du mich fragst. Soll mal egal sein. Musik ist politisch, seltsam der, der nur an andres dabei dächte, z. B. an emotionale Zugluft. Komisch finde ich aber immer die Abrechnungen, die sich sofort einstellen: hier Eisler. Im Folgesatz Gielen’s schiebt sich einiges zusammen, will er da sagen, dass er die Intelligenz »benutzt« beim Musizieren, oder dass das Eisler getan hätte, und er hingegen vom Bauche auch etwas verstehe? Ich finde dieses Herumreiten auf der Sinnlichkeit, sei es in der Musik, sei es in der Literatur oder sonstwo, ein bisschen komisch. Was wollen sie denn? Das Hirn, ist doch erwiesen inzwischen, ist Physis. ;-) Ohne sinnliche Rumpeleien geht es nicht. :lol:

Also na ja, das gefällt irgendwie schon, wenn da einer gegen die Dummheit spricht, und dass er den L. M. mal einordnet, gefällt mir zufälligerweise auch, so habe ich den bisher gehört. Aber was heißt das? Mir wäre es lieber, jemand würde gegen die alltäglichen Behauptungen, die Dummheit sei ein Übel, mal etwas mehr sagen. Soll heißen: den Gegenvorwurf, man sei mit solchen Meinungen ja nur elitär »unterwegs«, gleich mit enthaupten. Und da kenne ich nichts Besseres als Musils »Rede über die Dummeheit«. Leider, weit weit weg.

Also gut, der Gielen hat Geburtstag und möge er noch lange leben. Und obwohl ich Mahler VI von ihm viel, viel abgewinnen kann, also Dinge entdeckt habe, die sonst nicht so herausgehoben wurden, komme ich doch noch mit einer Miszelle. Da steht doch, mit Lob natürlich, er habe Beethoven IX mit Schönbergs Warschau-Überlebendem verquickt. Also dazu jetzt abgetippt Henscheid (GW, Bd. Musik, 646ff.):

»Die Frankfurter Rundschau fand’s wie fast immer in solchen Fällen, prima: nämlich daß der Dirigent Michael Gielen Beethovens Neunte »nicht mehr ohne einen bitteren politischen Kommentar dirigiert«; nämlich »gegen den Fetischcharakter dieser Musik« (Gielen) vorgeht und nämlich zwischen den dritten und vierten Satz dieser seiner Meinung nach zur affirmativen Fest- und Jubelmusik instrumentalisierten und manipulierten und jedenfalls verkommenen letzten der Beethovenschen Sinfonien (mit der finalen »Freude, schöner Götterfunken«-Vertonung Schillers) Arnold Schönbergs Männerchor-Kurzoratorium »Ein Überlebender aus Warschau« von 1947 einschiebt. So geschehen nicht zum erstenmal bei einem Konzertabend des Ehrendirigenten des Museumsorchesters am 10.12.2001 in der Frankfurter Alten Oper, weil, so Gielen: »Die Neunte ohne den Schrecken des ‚Überlebenden‘ ist ein Selbstbetrug.«

»Die Stupidität des Gedankengangs ist labyrinthisch«, ahnte es Karl Kraus (…) schon ein Dreivierteljahrhundert vorher voraus. Denn nähme man das Prinzip des halbverstanden-vulgarisierten Adornoismus des einstigen Adorno-Preisträgers ernst, dann müßte Gielen genauso zwingend und emphatisch in Brahms‘ Deutsches Requiem ein möglichst spekulativ schrillendes Pendereckisches Hiroshima gedenkendes Sirenengeheul einlegen; in Mozarts Requiem aber spätestens nach dem allzu kalmierenden Lacrimosa mindestens eine AC/DC-Hardrock-Riposte. Ja eigentlich nach jedem Mozart-, Beethoven-, Schubertschen Sinfoniesatz ein bißchen Hip-Hop, mindestens etwas Luigi Nono, irgendeine Intolleranza- oder möglichst Anti-Guernica-Pièce halt.

Im Fall der durchaus geringwertigen, circa drei Klassen unter Beethoven malochenden Schönbergschen Warschau-Musik tritt die Gielen offenbar gar nicht auffallende Närrischkeit hinzu: daß der dem Dirigenten besonders verdächtige Beethovensche Baß-Rezitativtext vor dem Freudenchor, »O Freunde, nicht diese Töne, sondern laßt uns angenehmere anstimmen«, sogar besonders deplaciert, ja kriminell wird und wie die Faust aufs Auge hämmert vor dem Hintergrund von Schönbergs KZ-Aufseher, der unmittelbar davor seine Opfer ja schnöd in den Tod scheucht. Nein, für Gielen und die stets andächtige FR ist der nun sogar besonders schreiende Witz offensichtlich komplett Wurscht, die Brechung vielmehr musikalisch und »emotional aufwühlend« sowie dei »Werkmontage ein grandioser Kommentar«.

Genug getippt. Da Gielen hübsch auf dem Berg mit Seeblick lebt, darf er dieses Contra schon bekommen.

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