Re: ROLLING STONE Januar 2010

#7422271  | PERMALINK

go1
Gang of One

Registriert seit: 03.11.2004

Beiträge: 5,625

Sonic Juice- Danke für die Tocotronic-Titelstory „Deutschlands beste Band“ – yes! -, die sich hinter dem SPEX-Artikel keineswegs verstecken muss und viel Appetit auf das neue Album macht; (…) ganz besonders für die Würdigung des „Alten Meisters“ Curtis Mayfield durch Klaus Walter, die idealtypisch vorführt, welchen eigenständigen Beitrag der deutsche Rolling Stone zur Aufarbeitung und Veranschaulichung der Popgeschichte leisten kann, wenn er einen Autor gewinnt, bei dem Informiertheit, Leidenschaft, attitude, Glaubwürdigkeit und Schreibtalent (insbesondere auch die Bewusst- und Nutzbarmachung der subjektiven Autorenperspektive) so ideal zusammenkommen wie bei Walter – mehr davon!; (…)

– Ansonsten erscheinen mir große Strecken des Heftes erstaunlich lust-, geist- und ambitionslos, das fängt noch recht harmlos an mit „my typewriter“ (wenn innerhalb von 4 Wochen nichts kommentierwürdigeres gefunden wird als die Cliffhanger-Technik von SPON sollte man die Kolummne vielleicht einstellen), erreicht aber einen Tiefpunkt mit dem „Rückblick auf das Jahrzehnt“, der mich offen gesagt ziemlich fassungslos macht: kann es wirklich sein, dass die Rolling Stone-Redaktion die Nuller-Jahre mit Artikeln über Springsteen, U2 (wo bleiben The Rolling Stones, Dylan, Neil Young und McCartney, die doch mindestens so prägend waren für die musikalischen Innovationen der Dekade), Ohrenstöpsel, Coaching-TV, Mobiltelefone, Google und irgendwelche Tennishelden würdig repräsentiert sieht? Nicht nur die Artikel von Bauerfeind und Thadeusz hätten vermutlich selbst „Mobil“ oder „TV Spielfilm“ wegen Irrelevanz, Uninspiriertheit und Zeilenschinderei abgelehnt, das gesamte Dekaden-Special scheint vornehmlich flott und „aus dem Bauch heraus“ konzipiert und geschrieben worden zu sein, ihm fehlt es von vorne bis hinten an Reflektiertheit, Inspiration und klugen Gedanken, erschreckend ist nicht nur die banale, nahezu willkürliche Auswahl der musikalischen Kronzeugen fürs Jahrzehnt (auch die Nähkästchen-Plaudereien von Robert Foster und das naive New York-Gechatte von Julian Casablancas müssen in einer solchen Rückschau keinen Platz haben) und nahezu vollständige Missachtung kultureller Trends und Entwicklungen in den Bereichen Film, Fernsehen, Kunst, Literatur und sogar Popmusik, insbesondere auch die völlige Abwesenheit von relevanten politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Betrachtungen; das Magazin scheint sich von der Ambition, auch politisch und gesellschaftlich aussagekräftige Ansichten und Recherchen zu veröffentlichen und sich hierbei um intelligente, unangepasste, originelle Köpfe zu bemühen, gänzlich verabschiedet zu haben – oder ist die lausige Dekaden-Revue am Ende gar ein verstecktes Fuck You! der alten Chefredaktion?

Ich teile diese Einschätzung. Das Beste am Heft sind Klaus Walters Artikel über Curtis Mayfield und Jürgen Ziemers Interview mit Tocotronic. Der Rückblick auf das Jahrzehnt dagegen ist schwach und geistlos.

Ich will noch eine Anmerkung zu Scobels Essay anbringen. Er schreibt (auf S. 68): „Solch eine Krise kann von einem unbekannten Ort ausgehen, irgendwo in Afrika oder Asien – oder von den Büros in 745th Seventh Avenue in New York, in denen es einige Banker der Lehman Brothers Inc. dann doch überzogen haben, so lange, bis weltweit die Finanzwelt erzitterte.“ Diese Aussage ist so irreführend, dass sie nach einer Richtigstellung verlangt.

Die Finanzkrise ist nicht von Lehman Brothers ausgegangen; diese Investmentbank war nur einer der Akteure, die zusammen das Kartenhaus aufgebaut haben (durch Handel mit neuartigen Kreditverbriefungen und diverse Finanzwetten), das dann eingestürzt ist. Tatsächlich waren sehr viele Banken und institutionelle Anleger daran beteiligt, einschließlich der deutschen Landesbanken. Der Grund der Finanzkrise lässt sich nicht in einer Stadt oder einem Land lokalisieren, auch wenn ihr Auslöser in den USA lag (auf dem dortigen Immobilienmarkt ist eine „Blase“ geplatzt) – andernfalls wäre es eine lokal begrenzte Krise geblieben. Der Grund liegt vielmehr im internationalen Finanz- und Wirtschaftssystem. Es geht dabei um Prinzipien und Regeln (einschließlich staatlicher Regulierungen) des Kredit- und Wertpapiergeschäfts – um die Art und Weise, wie der Finanzsektor heute funktioniert, nicht nur um das Handeln Einzelner. Die Finanzkrise hat auch nicht erst mit der Pleite von Lehman Brothers im September 2008 begonnen; ihr Beginn lässt sich auf den August 2007 datieren, als der Interbankenmarkt (auf dem die Banken sich gegenseitig kurzfristig Geld leihen) zum Erliegen kam. Sie begann zunächst als „Subprime“-Krise, als das Geschäft mit gebündelten Hypothekenkrediten ins Stocken geriet und die dafür gegründeten Zweckgesellschaften sich nicht mehr refinanzieren konnten, und führte zu einer Solvenzkrise der Banken, deren Aktiva in Form von Wertpapieren in zunehmendem Maße einem Preisverfall ausgesetzt waren, als ihre Ertragsversprechen nicht mehr als sicher galten oder Papiere verkauft werden mussten, um Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen. Die Pleite einer großen Bank wie Lehman Brothers hat das kriselnde Finanzsystem dann an den Rand des Zusammenbruchs geführt, der nur durch beispiellose Rettungsmaßnahmen von Regierungen und Notenbanken verhindert wurde. Über die Zahlungsnöte im Finanzsektor und die Verknappung der Kredite hat sich die Finanzkrise zur allgemeinen Wirtschaftskrise ausgeweitet oder (anderen Analysen zufolge) den fälligen zyklischen Abschwung massiv verschärft.

Scobel formuliert in seinem Text als wichtige Zukunftsaufgabe, „die Komplexität unserer Welt besser zu begreifen“. Indem er aber die Finanzkrise auf das „überzogene“ Handeln „einiger Banker“ in New York zurückführt, betreibt er selber genau das Gegenteil, nämlich Legendenbildung.

Sein Essay ist aber auch sonst nicht gut. Er besteht aus wohlklingenden Phrasen, die Tiefsinn vortäuschen sollen (wie im komplett überflüssigen ersten Absatz, in dem die Vergangenheit oder Geschichte mit unserer Erinnerung an sie verwechselt wird), aus Banalitäten, falschen Behauptungen und etwas handelsüblicher Kulturkritik. „Wir wissen vieles, aber wir wissen nicht mehr, was das, was wir wissen, bedeutet“: Scobel selbst mit seiner Orientierungslosigkeit in Sachen Wirtschaftskrise ist dafür ein gutes Beispiel, aber solange er das nicht weiß, sollte er keine Essays schreiben…

--

To Hell with Poverty