Re: "Krautrock" und seine Verwandten

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tolomoquinkolom

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Bender RodriguezDass die „Nurse With Wound“-Liste hier im Thread Erwähnung fand, ist insoweit ein Glücksfall für diesen, da sie so gut wie nichts anderes, was hier versucht wurde zu dokumentieren, ganz klar belegt, dass Teile des „Krautrock“ zwar musikalisch als Einfluss in die „Post-Punk“- (so langsam wird der Begriff inflationär, so oft wie zur Zeit wurde er wohl damals gar nicht verwendet…) und Industrial-Landschaft eingezogen ist (was übrigens auch niemand bestritten hat), aber nur als ein Teil von vielen anderen (mehr oder weniger wichtigen) Einflüssen. Das Interesse an avantgardistischeren Strömungen und am Experiment, die Erforschung von Sounds und der Fortschritt baute bekanntlich doch immer auf vorhergehenden Errungenschaften auf. So wurden (und werden) natürlich auch die Futuristen als Einflussgeber interessant. Allen voran Luigi Russolo [1885-1947], der mit seinem Manifest „L’arte dei rumori“ von 1913 („Die Kunst der Geräusche“, oder auf Englisch „The Art Of Noises“ – na, kommt dem geneigten Freund elektronischer Musik hier nicht etwas bekannt vor…?) einen Grundstein für das Verständnis und der Akzeptanz von Geräuschzentriertheit innerhalb der Tonkunst legte. Darauf baute der Bruitismus auf, der erst die „musique concrete“ ermöglichte (der Begriff geht auf Pierre Schaeffer [1910-1995] zurück, der Anfang der fünfziger Jahre einen Vorläufer der „Loop“-Technik entwickelte). So ging die Entwicklung der elektronischen, bzw. geräuschzentrierten Musik kontinuierlich weiter, ich möchte jetzt nicht jeden „Pionier“ benennen mögen (die Liste ist lang), jedoch noch Oskar Sala [1910-2002] nicht unerwähnt lassen, der Anfang der dreissiger Jahre ein sog. Trautonium entwickelte und sich z.B. für die Umsetzung der Vogelgeräusche in Hitchcocks „Die Vögel“ verantwortlich zeichnete. Das Vorwort seiner Biographie wurde von Florian Schneider (Kraftwerk) verfasst. Ein weiterer früher Protagonist der elektronischen Musik war Joe Meek [1929-1967], der mit seiner Band „The Tornados“ 1962 einen Welthit mit „Telstar“ (Stichwort: „cosmic music“) produzierte und die Verschmelzung von avantgardistischer elektronischer Musik und Pop vorantrieb. Joe Meek huldigten Nurse With Wound auf ihrem „Rock ’n‘ Roll Station“-Album.
Was dies alles auch mit (ich betone: Teilen von) „Krautrock“ zu tun hat? Wenn man die Zusammenhänge und die Entwicklung betrachtet, so macht das bewusst eingesetzte Verstärkerbrummen bei Can, die interstellaren Schwebesounds bei Tangerine Dream und die futuristische Ästhetik bei Kraftwerk plötzlich Sinn in musikhistorischem Bezug und ihrer Grundlagen – während gleichermassen die Intention des Industrial auf gleiche Wurzeln zurückgeht. So entstammt der Bandname der spanischen Industrialband Esplendor Geometrico einem Zitat von Marinetti, eines Weggefährten von Russolo. Manche Wege verliefen parallel zueinander, manchmal kreuzten sie sich – und manchmal wurden sie mehrspurig ausgebaut…
So kann man bei NWW, Current 93 und auch Coil getrost davon ausgehen, dass sie „ihre“ „Krautrocker“ wohl kannten, aber oftmals im Bezug auf gewisse Bands ausser Liebhaberei und Nerdtum nicht viel dahinter steckte. Gerade die stilistischen Wandlungen besagter Bands und z.B. die gnostisch-verdrehte religiöse Weltanschauung eines David Tibet liess manchmal alles und gleichzeitig gar nichts zu. D.h., mittels und zwischen Einflüssen, Zitaten und Verbeugungen von/vor Incredible String Band, Love, Xhol, Faust, Whitehouse, Black Sabbath, Death In June, Kinderliedern (s. Enid Blytons „Noddy“), Neoklassik, Aleister Crowley’s Gebrummel, Techno, Acid House, singalong Popmusic (Strawberry Switchblade – Rose McDowall war zeitweise Mitglied bei C93), war alles möglich. Ebenso sein Kumpel Stephen Stapleton, sein Plunderphonic-„Manifest“ „Sylvie & Babs“ sagt vor allem eines aus: so einfach kann man es sich halt nicht machen und einen Künstler gezielt festnageln…

Auch wenn dieser Buchstabenwand keine deutlicheren Absätze gegönnt wurden, ist das ein sehr interessanter Text geworden. Bei Deiner gelungenen Rückschau auf elektronische Pioniere hätte ein Sätzlein zu Bebe & Louis Barron oder auch Pierre Henry nicht unbedingt geschadet.

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